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Walter Josef Böhler

Der am 29. November 1934 in Radolfzell geborene Walter Josef Böhler war das uneheliche Kind der Hausangestellten und Kinderpflegerin Emma Josefine Böhler (geb. 19.3.1911) aus Wangen (Öhningen). Deren Eltern waren Anna Maria Böhler, geborene Schneble (1882-) und der Oberpostschaffner Wilhelm Böhler (1879-1951). Emma Böhler, die im Februar 1934 von Luzern nach Baden-Baden zog, war dort mit Unterbrechungen bis Anfang September 1934 gemeldet. Die Einwohnermeldekarte verzeichnet ab 23. März 1934 einen Gefängnisaufenthalt im Amtsgefängnis von Baden-Baden. Der Grund für die Inhaftierung der werdenden Mutter ist nicht bekannt. Nach der Entlassung am 11. Juli 1934 war Emma Böhler vorübergehend im Marienheim, einem „Heim für stellenlose Mädchen“ in der Scheibenstr. 6, ab 31. Juli in Nordrach und ab 22. August 1934 nochmals in Baden-Baden, jetzt im Rafaelheim, Gr. Dollenstr. 5, gemeldet, bevor sich die Hochschwangere am 5. September 1934 in Baden-Baden abmeldete und nach Radolfzell in die Wohnung ihrer Eltern zog. In der Köllinstr. 31 kam am 29. November 1934 Walter Josef zur Welt. Wer sein Vater war, konnte nicht ermittelt werden.

Vermutlich noch in seinem ersten Lebensjahr wurde Walter in das von Kreuzschwestern aus Hegne betreute St. Augustinusheim Freiburg, Katharinenstr. 8, aufgenommen; ein „Fürsorgeheim für Mädchen, Frauen und Kinder“ des Katholischen Fürsorgevereins (KFV). Wer die Einweisung Walters veranlasste und ob sie mit Zustimmung der Mutter erfolgte, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Sie dürfte behördlich als Fürsorgefall oder nach amtsärztlicher Meldung des an einer angeblich „erb- und anlagenbedingten“ Krankheit leidenden Kleinkindes betrieben worden sein. Walter war mit einer Gaumenspalte auf die Welt gekommen und galt „infolge Gehirnschädigung“ als „schwachsinnig“. Im Februar 1937 veranlasste das Augustinusheim Walters Aufnahme in die St. Josefsanstalt Herten (Rheinfelden); das „imbezille Kind“ könne, wie es im ärztlichen Zeugnis (Dr. Richard Birnbaum, Freiburg) vom 12. Februar 1937 wörtlich heißt, „nicht gemeinsam mit gesunden Kindern in einer Anstalt untergebracht werden“. Nach Walters Aufnahme in Herten, die am 8. Mai 1937 erfolgte, meldete sich Emma Böhler in Radolfzell ab und zog in eine Pension nach Höchenschwand im Landkreis Waldshut; möglicherweise, um näher bei ihrem Sohn zu sein.

In der Josefsanstalt ging der 2 1/2-jährige Walter in den „heilpädagogischen Kindergarten“. Das in den Akten als „anhänglich“ beschriebene, „zeitweilig vor Erwachsenen scheue“ Kind sei zwar „ab und zu unrein“, doch esse und trinke es selbständig. Eine Gaumenspaltenoperation - unklar, wann und wo sie vorgenommen wurde - habe Walters Gesicht „stark verunstaltet“. Walters Sprachverständnis wird als „gut“ bezeichnet; er spreche infolge der körperlichen Missbildung aber „alles undeutlich“; abschließend die Bemerkung: „sehr guter Sänger.“ 1)

St. Josefs-Anstalt Herten: "Privat-, Unterrichts- und Erziehungsanstalt für Geistesschwache und Epileptische katholischer Konfession. Pflegeanstalt für Nichtbildungsfähige jeder Konfession, Alters und Geschlechts." (Briefkopf 1940) - Zeitgenössische Bildkarte, gelaufen 1938. Sammlung Markus Wolter.
St. Josefs-Anstalt Herten: "Privat-, Unterrichts- und Erziehungsanstalt für Geistesschwache und Epileptische katholischer Konfession. Pflegeanstalt für Nichtbildungsfähige jeder Konfession, Alters und Geschlechts." (Briefkopf 1940) - Zeitgenössische Bildkarte, gelaufen 1938. Sammlung Markus Wolter.


Obwohl als „schulfähig“ bezeichnet, wurde der fünfjährige Walter im Herbst 1939 für die geplante NS-„Euthanasie“-„Aktion T4“ erfasst: Die Meldebögen zur Auflistung der Hertener Pfleglinge waren im Oktober 1939 aus der Berliner „T4“-Planungszentrale eingetroffen und wurden von Direktor Karl Vomstein bis November 1939 fristgerecht ausgefüllt und nach Berlin zurückgeschickt, wo „T4“-Gutachter über den angeblichen „Lebens(un)wert“ von zehntausenden kranken und behinderten Menschen entschieden. Allein aus der St. Josefs-Anstalt wurden 345 Pfleglinge, darunter 220 Kinder (70 Mädchen und 150 Jungen) für die „Verlegung“ in die Tötungsanstalt Grafeneck bestimmt. Auch Walter gehörte zu ihnen: Am 12. August 1940 wurde er im zweiten Transport mit weiteren 74 männlichen, überwiegend minderjährigen Pfleglingen auf sogenannte „ministerielle Anordnung“ des Karlsruher Innenministeriums in drei „grauen Bussen“ der "Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft" (Gekrat) von Herten zunächst in die als „Zwischenanstalt“ fungierende Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen und von dort am 29. August 1940 in die Tötungsanstalt Grafeneck „verlegt“ und noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet und anonym eingeäschert.

Mahnmal Zfp Emmendingen 2
"Euch, den Opfern hier begangenen Unrechts 1939-1945" - Mahnmal für die Opfer der "Aktion T4", Anstaltsgelände des Zentrums für Psychiatrie, Emmendingen. Fotografie: Markus Wolter, 2019.
 

 

T4 Wohin
"Denkmal der Grauen Busse" - Zentrum für Psychiatrie Emmendingen 2019/2020

Anstaltsdirektor Vomstein hatte sich laut eigener Aussage für dieses Mal wenigstens vorgenommen, seine aktive Mitwirkung am Transport zu verweigern: „Über das Schicksal der verlegten Anstaltsinsassen herrscht heute allgemein keine Unklarheit mehr. Diese neue Entwicklung der Dinge hat uns in größte Trauer versetzt und verbietet uns, bei einer weiteren Verlegung mitzuwirken“ - das habe er am 3. August 1940 an den für die „Aktion“ verantwortlichen Ministerialrat Ludwig Sprauer im Badischen Innenministerium geschrieben; und keine Antwort erhalten. Auch den Protektor der Anstalt, den Freiburger Erzbischof Conrad Gröber, habe er am 13. August nachträglich über die Vorgänge informiert.

Am 12. August versuchte Vomstein offenbar, in einem regelrechten Menschenhandel mit dem Transportleiter Hermann Schwenninger, einige der auf der Transportliste genannten „arbeitsfähigen Pfleglinge“ zurückzuhalten und sie durch, so wörtlich, „für den Anstaltsbetrieb völlig wertlose Pfleglinge“ zu ersetzen. Unter den schließlich - wie vorgesehen - 75 abtransportierten Jungen und Männern, von denen sich einige verzweifelt wehrten, habe sich, so Vomstein in seiner Vernehmung im Freiburger Grafeneckprozess 1947, auch ein fünfjähriger Junge befunden: Walter Böhler, der Jüngste in dieser Gruppe.

„Er besuchte seit 8. Mai 1937 täglich unseren heilpädagogischen Kindergarten, machte in jeder Hinsicht Fortschritte und versprach nach unserer Ansicht bestimmt schulfähig zu werden. Er hatte aber keine Nase. Infolge dieser schweren körperlichen Missbildung gelang es mir nicht, den Transportführer zur Freigabe auch dieses Jungen zu bewegen.“2)

„Zorn“

Das im (nicht überlieferten) „Trostbrief“ an die Angehörigen und in der Sterbeurkunde des „Standesamtes“ Grafeneck genannte und fingierte Todesdatum ist der 10. September 1940; so auch der Vermerk zu Walters Radolfzeller Geburtentregistereintrag. Der stellvertretende Büroleiter und als „Standesbeamte“ von Grafeneck für die gefälschten Sterbeurkunden zuständige Gerhard Kurt Simon (Tarnname „Zorn“) „wählte“ auf Anweisung des Tötungsarztes „Diphterie(!), toxische Herzmuskelschwäche“ als Todesursache.

Sterbeurkunde S. 1
Sterbeurkunde S. 1
Sterbeurkunde S. 2
Sterbeurkunde S. 2


Sterbeurkunde Walter Josef Böhler, Sonderstandesamt Grafeneck, 10.9.1940.

Weitere, Walter betreffende Dokumente aus der Freiburger Ermittlungsakte sind ein Schreiben der St. Josefsanstalt, das den Kostenträger und Amtsvormund(?), das Stadtjugendamt Baden-Baden, von der „Verlegung“ am 12. August 1940 in Kenntnis setzte und eines der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen zur Kostenausgleichsforderung. Die mit „Landespflegeanstalt Grafeneck“ firmierende Tötungsanstalt teilte schließlich dem Kostenträger am 11. September 1940 mit gleich mehreren Falschangaben mit, dass Walter Josef Böhler „am 10. September 1940 in unserer Anstalt verstorben ist. Der Patient wurde von der Anstalt Herten zu uns verlegt. Heil Hitler i.V. Dr. Keller3).“

Stolperstein für Walter Josef Böhler, Köllinstr. 31, Radolfzell, verlegt am 2. Juli 2016
Stolperstein für Walter Josef Böhler, Köllinstr. 31, Radolfzell, verlegt am 2. Juli 2016


Wo Walters sterbliche Überreste beseitigt wurden, ist nicht bekannt. Auf dem Städtischen Friedhof Radolfzell kam es 1940 oder später zu keiner Urnenbestattung auf seinen Namen.

Lebende Angehörige Walter Josef Böhlers waren nicht zu ermitteln. Emma Josefine Böhler heiratete 1942 Reinhold Steinwachs aus Dortmund, mit dem sie 1945 nach Wangen (Öhningen) und später nach Aachen zog. Eine Fotografie, die Walter zeigt, ist bislang nicht gefunden worden.

Herten Namenstafel 1
Herten Namenstafel 1
Herten Namenstafel 2
Herten Namenstafel 2


Im Eingangsportal der Anstaltskirche St. Josef, in der seit 1997 Gedenkgottesdienste für die „Aktion T4“-Opfer abgehalten werden, sind seit 1999 zwei Namenstafeln angebracht. Sie tragen unter dem jeweiligen Transportdatum die Namen aller 345 BewohnerInnen der Josefsanstalt, die zwischen dem 26. Juli 1940 und dem 2. Dezember 1940 aus Herten abtransportiert und in Grafeneck ermordet wurden; darunter auch die Namen von Walter Böhler und Elisabeth Welschinger.

Die Gedenkstätte Grafeneck führt Walter Josef Böhler im Namens- und Gedenkbuch unter den 10.654 Menschen, die in Grafeneck 1940 als sogenanntes „lebensunwertes Leben“ ermordet wurden.

Steinpaten: Edith Schöneich, Rolf Bäthke, Radolfzell-Güttingen.
Recherche: Markus Wolter.


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Quellen: Einwohnermeldekarte Emma Böhler, Stadtarchiv Baden-Baden; Einwohnermeldekarten Wilhelm Böhler, Emma Böhler, Walter Böhler, Stadtarchiv Radolfzell (StAR); Geburtenregister, StAR; Ein- und Austrittsbuch St. Josefsanstalt, St. Josefshaus Herten; Patientenakte Walter Josef Böhler, BArch Berlin, R 179/898; Staatsanwaltschaft Freiburg, Ermittlungsakten in Strafverfahren; Dr. Arthur Schreck, Dr. Ludwig Sprauer wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (Euthanasie) / 1940-1947, darin: Ermittlungsheft St. Josefsanstalt Herten, StAF 176/1,762 (enthält u.a. die Sterbeurkunde) und StAF F 176/1 748 (Aussage Vomstein); zum Transport am 12. August 1940 vgl. ferner: Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt 1995, S. 234; ferner: Richter, Gabriel (Hrsg.): Die Fahrt ins Graue(n). Die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen 1933-1945 und danach. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, Emmendingen 2005, S. 86 f. Fotografie der Namenstafeln: Andreas Gräff, St. Josefshaus Herten.