Radolfzell ist eine Kleinstadt am Bodensee. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde hier eine Kaserne für die Waffen-SS erbaut und 1937 bezogen. Von ihr wurden in folgenden Jahren Verbrechen begangen - bis weit über die Region hinaus.
Die Radolfzeller SS sprengte in der Region Synagogen, deportierte Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager, war am 'Anschluß' von Österreich, der Besetzung der Sudetendeutschen Gebiete, der Zerschlagung der Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen beteiligt.
In der Radolfzeller Kaserne war von 1941 bis 1945 ein Außenkommando2 des KZ Dachau integriert.3
Beinahe 65 Jahre lang wurde darüber weitgehend geschwiegen. Erst in den letzten 15 Jahren änderte sich das. So wurden 2010 ein vielbeachtetes, neues Theaterstück aufgeführt, ein Dokumentarfilm gedreht und seit 2014 in der Stadt Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus verlegt, worüber in der Presse jeweils ausführlich berichtet wurde.
Mehr zur historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und dem Gedenken in Radolfzell findet sich in der Chronologie.
24.06.2025: Öffentliche Diskussion und Beschlussfassung des GR Radolfzell über den Umgang mit der Ehrenbürgerwürde August Kratt
In seiner Sitzung vom 24.06.2025 beschloss der Gemeinderat von Radolfzell, die Ehrenbürgerwürde von August Kratt, die ihm im Jahr 1962 verliehen wurde, -nicht- abzuerkennen. Dazu lagen ein durch die Stadt beauftragtes Gutachten von Dr. habil. Carmen Scheide, ein Positionspapier des AK Erinnerungskultur sowie der Antrag der Freien Grünen Liste (FGL) vor, Kratt die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen. Der sechsköpfige AK Erinnerungskultur hatte mehrheitlich (1 Gegenstimme, Siegfried Lehmann) empfohlen, die Aberkennung nicht in die Wege zu leiten und stützte sich dabei auf das Gutachten von Dr. Scheide. Ergebnis der Abstimmung: 7 Gemeinderät*innen (5 FGL + 2 SPD) stimmten für, 16 gegen den Antrag der FGL, bei einer Enthaltung.
- Offener Brief von Markus Wolter zu August Kratt, 18.06.2025 (PDF)
- Beschlussvorlage - 2025/0010-02 GR Radolfzell
Zur Beteiligung der Radolfzeller Stadtverwaltung an Zwangssterilisationen im Rahmen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" 1934-1940
Per Offenem Brief vom 18. Juni 2025 gelangte den Gemeinderatsmitgliedern, Oberbürgermeister Gröger und Bürgermeisterin Laule die Information über eine Beteiligung Kratts an mindestens einem Fall einer Zwangssterilisation im Radolfzeller Krankenhaus 1938 (Anna Fetzer) zur Kenntnis. Das Kratts Beteiligung betreffende Dokument wurde in der GR-Sitzung am 24. Juni 2025 jedoch mehrheitlich als nicht hinreichend für den Nachweis einer verantwortlichen Mitwirkung Kratts an einem NS-Verbrechen bewertet. Die Gutachterin, die das besagte Dokument und dessen Kontext als Teil eines umfangreichen Aktenbestands im Staatsarchiv Freiburg nicht gekannt bzw. berücksichtigt hatte, stellte dem Gemeinderat am 19. Juni 2025 einen deskriptiven Nachtrag mit Kopien bzw. Transkriptionen ausgewählter Seiten des Aktenbestands zur Verfügung, ohne diesen hinsichtlich der Frage nach der persönlichen Verantwortung resp. Schuld Kratts bei diesem Fall auszuwerten. Der Gemeinderat sollte sich selbst ein Bild davon machen können.
Von Seiten der Stadtverwaltung (Bürgermeisterin Laule) wurde in der GR-Sitzung unmittelbar vor der Diskussion und Abstimmung bereis die unrichtige Feststellung getroffen, dass es sich bei dem zur Rede stehenden, von Kratt unterschriebenen Schriftstück - eine verwaltungsinterne Weiterleitung einer erbgesundheitsgerichtlichen Anfrage zu Anna Fetzer an das zuständige Stadtbauamt mit der Bitte um Rückantwort - um eine relativ bedeutungslose Akte handele, aus der nicht erkenntlich werde, dass Kratt in diesen Fall einer gerichtlich angeordenten Zwangssterilisation "inhaltlich" involviert gewesen wäre, diese gebilligt oder auch nur mit ermöglicht hätte.
Gegendarstellung: Durch den umfassenden und lückenlos überlieferten Aktenbestand des Erbgesundheitsgerichts Konstanz und des Gesundheitsamts Konstanz zum Fall Anna Fetzer und ihre Schwester Agnes Zimmermann im Staatsarchiv Freiburg, lässt sich quellenkritisch belegen, dass die Stadtverwaltung Radolfzell bei Umsetzung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" administrativ und personell involviert war. Unter anderem waren Bürgermeister Jöhle und - im Falle Anna Fetzers - auch Beigeordneter Kratt nachweislich an diesem komplex arbeitsteiligen Verbrechen beteiligt. Kratts persönliche Verantwortung lässt sich nicht mit Mutmaßungen über "krankheitsbedingte Vertretungen" Jöhles durch den ansonsten mit dem "Fall Fetzer" in der Sache nicht betrauten oder involvierten Bürgermeister-Stellvertreter kleinreden oder leugnen. Weitere Nachforschungen werden folgen. Markus Wolter
Den Opfern der Zwangssterilisationen, an denen die Stadtverwaltung Radolfzell unter Bürgermeister Josef Jöhle und dessen Beigeordneter und Stellvertreter August Kratt 1934-1939 verantwortlich beteiligt war.
Dokument des Monats
Vor 85 Jahren: "Verwaltung und Verwertung" - Das "Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden", Karlsruhe 1940
Im Rahmen der sogenannten "Wagner-Bürckel-Aktion", der Deportation von über 6500 jüdischen Einwohnern aus Baden und der Saarpfalz ins südfranzösische Internierungslager Gurs am 22. Oktober 1940, verfügte Gauleiter Robert Wagner die Einziehung der Vermögen der Deportierten durch das badische Innenministerium in Karlsruhe. Dazu ernannte Wagner Regierungsrat Carl Dornes (1906-1980) zum „Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen in Baden“. Bei den Polizeiverwaltungen der Landratsämter bzw. Polizeipräsidien wurden sog. „Abteilungen für jüdisches Vermögens“ gebildet, die das Vermögen der Deportierten erfassten, die Wohnungen versiegelten, Inventarlisten erstellten und Versteigerungen anberaumten. Carl Dornes zeichnete für das vermutlich Ende 1940 erstellte, in Stadt- und Landkreise gegliederte Namens- und Adressverzeichnis der Deportierten verantwortlich, das den Landrats - bzw. Bezirksämtern bei der systematischen "Abwicklung" 1940/41 diente. In den Beständen von mehreren badischen Landratsämtern haben sich im Staatsarchiv Freiburg Exemplare des Original-Verzeichnisses erhalten. Auf der Webseite der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe ist es seit langem als Digitalisat verfügbar:
"Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden", unter: digital.blb-karlsruhe.de