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Einführung

Radolfzell ist eine Kleinstadt am Bodensee. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde hier eine Kaserne für die Waffen-SS erbaut und 1937 bezogen. Von ihr wurden in folgenden Jahren Verbrechen begangen - bis weit über die Region hinaus.

Radolfzell mit dem Kasernenareal (links unten), um 1958. Thorbecke Luftbild, Sammlung Markus Wolter.
Radolfzell mit dem Kasernenareal (links unten), um 1958. Thorbecke Luftbild, Sammlung Markus Wolter.
SS-Garnison Radolfzell, Hansa-Luftbild 1941. Zeitgenössische Ansichtskarte, Buch- und Schreibwarenhandlung Richard Burk.
SS-Garnison Radolfzell, Hansa-Luftbild 1941. Zeitgenössische Ansichtskarte, Buch- und Schreibwarenhandlung Richard Burk.

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Die Radolfzeller SS sprengte in der Region Synagogen, deportierte Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager, war am 'Anschluß' von Österreich, der Besetzung der Su­de­ten­deut­schen Ge­bie­te, der Zer­schla­gung der Tsche­cho­slo­wa­kei und dem Über­fall auf Polen beteiligt.

In der Ra­dolf­zel­ler Ka­ser­ne war von 1941 bis 1945 ein Außenkommando2 des KZ Dachau integriert.3

Beinahe 65 Jahre lang wurde darüber weitgehend geschwiegen. Erst in den letzten 15 Jahren änderte sich das. So wurden 2010 ein vielbeachtetes, neues Theaterstück aufgeführt, ein Dokumentarfilm gedreht und seit 2014 in der Stadt Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus verlegt, worüber in der Presse jeweils ausführlich berichtet wurde.

Mehr zur historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und dem Gedenken in Radolfzell findet sich in der Chronologie.

24.06.2025: Öffentliche Diskussion und Beschlussfassung des GR Radolfzell über den Umgang mit der Ehrenbürgerwürde August Kratt

In seiner Sitzung vom 24.06.2025 beschloss der Gemeinderat von Radolfzell, die Ehrenbürgerwürde von August Kratt, die ihm im Jahr 1962 verliehen wurde, -nicht- abzuerkennen. Dazu lagen ein durch die Stadt beauftragtes Gutachten von Dr. habil. Carmen Scheide, ein Positionspapier des AK Erinnerungskultur sowie der Antrag der Freien Grünen Liste (FGL) vor, Kratt die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen. Der sechsköpfige AK Erinnerungskultur hatte mehrheitlich (1 Gegenstimme, Siegfried Lehmann) empfohlen, die Aberkennung nicht in die Wege zu leiten und stützte sich dabei auf das Gutachten von Dr. Scheide. Ergebnis der Abstimmung: 7 Gemeinderät*innen (5 FGL + 2 SPD) stimmten für, 16 gegen den Antrag der FGL, bei einer Enthaltung.


Zur Beteiligung der Radolfzeller Stadtverwaltung an Zwangssterilisationen im Rahmen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" 1934-1940

Per Offenem Brief vom 18. Juni 2025 gelangte den Gemeinderatsmitgliedern, Oberbürgermeister Gröger und Bürgermeisterin Laule die Information über eine Beteiligung Kratts an mindestens einem Fall einer Zwangssterilisation im Radolfzeller Krankenhaus 1938 (Anna Fetzer) zur Kenntnis.  Das Kratts Beteiligung betreffende Dokument wurde in der GR-Sitzung am 24. Juni 2025 jedoch mehrheitlich als nicht hinreichend für den Nachweis einer verantwortlichen Mitwirkung Kratts an einem NS-Verbrechen bewertet. Die Gutachterin, die das besagte Dokument und dessen Kontext als Teil eines umfangreichen Aktenbestands im Staatsarchiv Freiburg nicht gekannt bzw. berücksichtigt hatte, stellte dem Gemeinderat am 19. Juni 2025 einen deskriptiven Nachtrag mit Kopien bzw. Transkriptionen ausgewählter Seiten des Aktenbestands zur Verfügung, ohne diesen hinsichtlich der Frage nach der persönlichen Verantwortung resp. Schuld Kratts bei diesem Fall auszuwerten. Der Gemeinderat sollte sich selbst ein Bild davon machen können. 

Von Seiten der Stadtverwaltung (Bürgermeisterin Laule) wurde in der GR-Sitzung unmittelbar vor der Diskussion  und Abstimmung bereis die Feststellung getroffen, dass es sich bei dem zur Rede stehenden, von Kratt unterschriebenen Schriftstück  - eine verwaltungsinterne Weiterleitung einer erbgesundheitsgerichtlichen  Anfrage zu Anna Fetzer an das zuständige Stadtbauamt mit der Bitte um Rückantwort - um eine relativ bedeutungslose Akte handele, aus der nicht erkenntlich werde, dass Kratt in diesen Fall einer gerichtlich angeordenten Zwangssterilisation "inhaltlich" involviert gewesen wäre, diese gebilligt oder auch nur mit ermöglicht hätte.

Gegendarstellung: Durch den umfassenden und lückenlos überlieferten Aktenbestand des Erbgesundheitsgerichts Konstanz und des Gesundheitsamts Konstanz zum Fall Anna Fetzer und ihre Schwester Agnes Zimmermann im Staatsarchiv Freiburg, lässt sich quellenkritisch belegen, dass die Stadtverwaltung Radolfzell bei Umsetzung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" administrativ und personell involviert war. Unter anderem waren Bürgermeister Jöhle und - im Falle Anna Fetzers - auch Beigeordneter Kratt nachweislich an diesem komplex arbeitsteiligen Verbrechen beteiligt. Kratts persönliche Verantwortung lässt sich nicht mit Mutmaßungen über "krankheitsbedingte Vertretungen" Jöhles durch den ansonsten mit dem "Fall Fetzer" in der Sache nicht betrauten oder involvierten Bürgermeister-Stellvertreter kleinreden oder leugnen. Weitere Nachforschungen werden folgen. Markus Wolter


Den Opfern der Zwangssterilisationen, an denen die Stadtverwaltung Radolfzell unter Bürgermeister Josef Jöhle und dessen Beigeordneter und Stellvertreter August Kratt 1934-1939 verantwortlich beteiligt war.

Stolpersteine für Josefine Fetzer, Anna Fetzer, Agnes Zimmermann, geb. Fetzer. Ekkehardstr. 16, Radolfzell.
Stolpersteine für Josefine Fetzer, Anna Fetzer, Agnes Zimmermann, geb. Fetzer. Ekkehardstr. 16, Radolfzell.

 

Dokument des Monats

Deutschstunde: Dr. Hermann Venedey (1904-1980)

Der langjährige Schulleiter und Deutschlehrer am Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums in Konstanz, Hermann Venedey, war ein herausragender "Vertreter der liberalen, demokratischen, freiheitlichen und humanitären Pädagogik", so beschreibt ihn der lesenswerte Wikipedia-Artikel.

Als promovierter Lehramtsassessor am Konstanzer Gymnasium (heute: Heinrich-Suso-Gymnasium Konstanz) widersetzte sich Dr.phil. Venedey dem am 12. März 1933 ergangenen Erlass, dass die Reichsfahne (schwarz-weiß-rot) zusammen mit der Hakenkreuzfahne auf öffentlichen Gebäuden und also auch an Schulen gehisst werden musste. "Im Geist seines Amtseids auf die Weimarer Republik trat er dem Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Schulgebäude entgegen und begründete schriftlich, warum er seinen Dienst unter dieser Fahne nicht weiter ausüben wollte." An 13. März 1933 verabschiedete er sich von seinen Schülern und Kollegen, quittierte den Schuldienst und wurde arbeitslos. Wegen Diffamierungen und eines unsäglichen Schmähartikels in der "Bodensee-Rundschau" ("Nachruf" für Herrn Dr. phil. Venedey) bekam er keine Arbeit mehr und flüchtete mit seiner Familie Mitte Juni 1933, kurz vor der drohenden "Schutzhaft" im KZ Heuberg, über die grüne Grenze in die Schweiz (Basel).

Albumblatt eines Radolfzeller Abiturienten, Mittlere Reife an der Realschule Radolfzell 1946, mit Hermann Venedey als Lehrer und Schulleiter (obere Reihe rechts). Sammlung Markus Wolter.
Albumblatt eines Radolfzeller Abiturienten, Mittlere Reife an der Realschule Radolfzell 1946, mit Hermann Venedey als Lehrer und Schulleiter (obere Reihe rechts). Sammlung Markus Wolter.

 

Hermann Venedey als Deutschlehrer am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium Konstanz 1948. Sammlung Markus Wolter.
Hermann Venedey als Deutschlehrer am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium Konstanz 1948. Sammlung Markus Wolter.


Aus seinem Exil in der Schweiz kam Venedey 1945 nach Konstanz zurück. Als unbelasteter Lehrer wurde er in der französischen Besatzungszone wieder im Schuldienst eingestellt; bereits im ersten Nachkriegsschuljahr 1945/46 als Leiter der Realschule Radolfzell am Luisenplatz. Auf der Fotografie oben sieht man Oberstudiendirektor Dr. Venedey mit seiner ersten Abschlussklasse, der U II (Untersekunda), die er im Fach Deutsch unterrichtet hatte. Für die 1936 eingeschulten Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 1929/30 war es das erste ihrer bisherigen Schuljahre ohne Indoktrination und NS-Lehrplan. Um das Abitur zu erlangen, gingen sie nach ihrer "Mittleren Reife" in Radolfzell an die Oberrealschule nach Konstanz. Dort begegneten sie 1948 wieder ihrem "alten" Deutschlehrer Venedey, der in diesem Jahr die Leitung des auf seine Anregung nach Alexander von Humboldt benannten Gymnasiums übernahm, und sie bis zum Abitur 1949 begleitete. Unter Venedeys Radolfzeller und Konstanzer Eleven 1946-1949 waren u.a. Elsa ("Ilse") Schlegel-Ickenroth und Robert Eck.

Markus Wolter

Vgl.: Dr. Hermann Venedey 1904-1980, stolpersteine-konstanz.de