Radolfzell ist eine Kleinstadt am Bodensee. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde hier eine Kaserne für die Waffen-SS erbaut und 1937 bezogen. Von ihr wurden in folgenden Jahren Verbrechen begangen - bis weit über die Region hinaus.
Die Radolfzeller SS sprengte in der Region Synagogen, deportierte Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager, war am 'Anschluß' von Österreich, der Besetzung der Sudetendeutschen Gebiete, der Zerschlagung der Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen beteiligt.
In der Radolfzeller Kaserne war von 1941 bis 1945 ein Außenkommando2 des KZ Dachau integriert.3
Beinahe 65 Jahre lang wurde darüber weitgehend geschwiegen. Erst in den letzten 15 Jahren änderte sich das. So wurden 2010 ein vielbeachtetes, neues Theaterstück aufgeführt, ein Dokumentarfilm gedreht und seit 2014 in der Stadt Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus verlegt, worüber in der Presse jeweils ausführlich berichtet wurde.
Mehr zur historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und dem Gedenken in Radolfzell findet sich in der Chronologie.
Dokument des Monats
Zahnarzt und "Narr" - Der Radolfzeller SS-Führer Emil Doller
Fotografie: Urheber unbekannt. Fotoarchiv Markus Wolter.
Im Februar 1929 - eine partielle Seegfrörne hatte den Zellersee in eine große Eisfläche verwandelt - vergnügen sich zahlreiche Schlittschuhläufer, Männer, Frauen und Kinder, vor der Kulisse des Strandcafes am Strandbad Mettnau, das im Sommer 1928 eingeweiht worden war. Zwei spaßige "Damen" fallen auf, die sich vor dem Fotografen auf dem Eis offenbar gekonnt und "witzig" in Szene setzen: "die Höriweiber Doller und Gaisenmeier (recte: Gaissmaier?)" , wie auf der Rückseite der Fotografie zu lesen ist.
Im Februar 1929 ist sogenannte "Fasnet" in Radolfzell; sie lässt zwei Jungmänner spaßeshalber in die Rolle der närrischen Travestie schlüpfen.
Emil Doller, links im Bild, geboren am 16. Mai 1903 in Straßburg. Nach dem Abitur Zahntechniker-Ausbildung, "staatlich geprüfter Dentist". Seit 1926 wohnhaft in Radolfzell, bis 1950 Zahnpraxis in der Teggingerstraße 8. In erster Ehe verheiratet mit Klara Trendlin; mehrfacher Familienvater.
1933 meldet sich Doller zur Allgemeinen SS, laut eigenen Angaben "aus voller Überzeugung", die ihn schließlich zum Führer des Radolfzeller SS-Zuges aufrücken lässt:
"Es war damals eine Zeit, in der die Wirtschaft und alles darniedergelegen hat, und ich wollte durch meine Überzeugung zu einem besseren Staat beitragen. Im Laufe der Zeit wurde ich befördert. Mein letzter Dienstgrad in der Allgemeinen SS war Scharführer. Vor meiner Beförderung (...) wurde ich mit der Führung des SS-Zuges Radolfzell beauftragt. "
Doller löste 1936, nach anderen Quellen 1937 den ersten SS-Zugführer Emil Traub (geb. 10.2.1890; NSDAP 3457962, SS 32210) ab. Sein unmittelbarer Dienstvorgesetzter war SS-Obersturmführer Josef Kalinowski, Konstanz, stellvertretender SS-Sturmbannführer im SS-Abschnitt XXIX unter SS-Oberführer Walter Stein, der an der Zerstörung der Konstanzer Synagoge 1938 wesentlich beteiligt war.
Als sich Doller noch vor dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 freiwillig zur Waffen-SS meldete ("eingezogen wurde", wie er dies später nannte), gab er die Radolfzeller SS-Führung an seinen Nachfolger, den Telegraphenarbeiter Friedrich Auer ab.
Bis zu seiner Kriegsgefangenschaft am 16. Mai 1945 machte Doller nach eigenen Angaben "den Krieg in der Waffen-SS mit". In welchen Einheiten und bei welchen Einsätzen er sich dabei "vor dem Feind bewährte", ist bislang nicht bekannt; ebensowenig wie sein zuletzt erreichter Waffen-SS-Dienstgrad oder etwaige Auszeichnungen.
Aus dem britischen Internierungslager Neuengamme 1947 entlassen und durch das Spruchgericht Hamburg- Bergedorf "entnazifiziert", kehrte er umgehend nach Radolfzell zurück, wo er seine Praxis in der Teggingerstraße noch bis 1950 fortführte. In diesem Jahr ließ er sich scheiden und zog nach Appenweier, wo er mit seiner zweiten Ehefrau eine gemeinsame Zahnarzt-Praxis bis zur Pensionierung betrieb.
Im Konstanzer Synagogenbrandprozess gegen Walter Stein 1961 ff. wurde Doller lediglich als Zeuge vernommen. Eine Beteiligung an den Taten verneinte er; erst im nachhinein sei er von Stein gesprächsweise über die Synagogenzerstörungen in Konstanz, Wangen, Gailingen und Randegg "informiert" worden.
Die angeführten Zitate und biographischen Angaben sind den besagten Prozessakten entnommen. Sie befinden sich im Staatsarchiv Freiburg, StAF F 178/2 42. Vgl. ferner Dollers Entnazifizierungsakte, Spruchgericht Bergedorf: Bundesarchiv Berlin, Standort Koblenz, Z42-III/2097.
Recherche: Markus Wolter, 2025