Radolfzell ist eine Kleinstadt am Bodensee. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde hier eine Kaserne für die Waffen-SS erbaut und 1937 bezogen. Von ihr gingen in folgenden Jahren Verbrechen aus - bis weit über die Region hinaus.
Die Radolfzeller SS sprengte in der Region Synagogen, deportierte Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager, war am 'Anschluß' von Österreich, der Besetzung der Sudetendeutschen Gebiete, der Zerschlagung der Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen beteiligt.
In der Radolfzeller Kaserne war von 1941 bis 1945 ein Außenkommando2 des KZ Dachau integriert.3
Beinahe 65 Jahre lang wurde darüber weitgehend geschwiegen. Erst in den letzten zehn Jahren änderte sich das. So wurden 2010 ein vielbeachtetes, neues Theaterstück aufgeführt, ein Dokumentarfilm gedreht und seit 2014 in der Stadt Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus verlegt, worüber in der Presse jeweils ausführlich berichtet wurde.
Mehr zur historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und dem Gedenken in Radolfzell findet sich in der Chronologie.
Dokument des Monats
Zehn Jahre Informationstafel "Ehemaliger Schießstand der Waffen-SS Radolfzell" - acht Jahre Gedenkstätte
Zur Erinnerung: aus den offiziellen "Leitlinien der Radolfzeller Erinnerungskultur" (2015):
"Städtische Erinnerungskultur leistet einen Beitrag dazu Spuren verschiedener Zeitgeschichten im Stadtbild zu erhalten und durch temporäre und dauerhafte Installationen im öffentlichen Raum die Stadt als Erinnerungsort – auch für Besucherinnen und Besucher der Stadt – sichtbar zu machen.
Formate des Gedenkens sollten mit Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn verbunden sein.
Der Anspruch der Radolfzeller Erinnerungskultur ist es, Kindern und Jugendlichen Geschichte erfahrbar zu machen.
Insbesondere bei kritischen Sachverhalten werden Expertisen von WissenschaftlerInnen als unabhängige Meinung hinzugezogen.
Die Leitlinien für die Kultur des Gedenkens und Erinnerns sind für Anregungen offen und tragen dazu bei, den öffentlichen Diskurs über zeitgeschichtliches Erinnern und Gedenken in der Stadt lebendig zu halten."
Zehn Jahre nach ihrer Installation 2012 bedarf die beschädigte und verschmierte Informationstafel am ehemaligen SS-Schießstand dringend einer Erneuerung.
Ihr jetziger Zustand verdeutlicht exemplarisch, wie die von der Stadtverwaltung 2015 verkündeten „Leitlinien zur Erinnerungskultur" an dieser seit 2014 anerkannten KZ-Gedenkstätte immer wieder unterlaufen und konterkariert werden: Viehbeweidung incl. Stallhütte und Elektrozaun (!) um das vom Liegenschaftsamt als "Trockenwiese" unter der Hand vergebene Areal 2017-2020,4 Absperrung der drei Kurzbahnen "aus versicherungstechnischen Gründen" 2019, Verzicht auf geeignete Erhaltungs- , Sichtbarmachungs- und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch und Verwahrlosung der Gedenkstätte. Eine angemessene Gedenkstättenarbeit wurde dadurch in den letzten Jahren deutlich beeinträchtigt, wenn nicht ganz unmöglich.
"Betreten verboten! Einsturzgefahr!" - und eine Stadtverwaltung, die seit drei Jahren verspricht, sich "Gedanken" zu machen.
Absperrungsgitter an den Kurzbahnen, ohne das immer wieder beschädigte Gedenkbuch.
Fotografien: Markus Wolter, 5. September 2022
Einzelnachweise