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Ordnungspolizei und Gestapohaft

Noch weitgehend unerforscht ist die Geschichte der Ordnungspolizei im Radolfzell der NS-Zeit.

Mehr Hinweise finden sich allerdings zur Rolle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Sie spielte auch in Radolfzell eine nicht unerhebliche Rolle bei der Verfolgung all jener, die nicht zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ gezählt wurden: Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Roma und Sinti.

Auch wenn in Radolfzell vor Ort keine Dienststelle der Gestapo existierte - die zuständige Gestapo-Außenstelle war in Konstanz, der nächste Grenzpolizeiposten war in Singen - so gab es doch Denunziation und Überwachung, gab es zahllose NS-Sondergerichtsverfahren, saßen viele Radolfzeller in Gestapohaft oder verdankten der Gestapo Aufenthalte in Arbeitserziehungs- und Konzentrationslagern.

Ordnungspolizei / Schutzpolizei

Leitung: Revier-Hauptmann der Schutzpolizei Karl Frei, geb. 1899.

Polizeistation und Gefängnis

Das Radolfzeller Polizeirevier (Polizeiwache und Kriminalpolizei) befand sich in der Bismarckstr. 9. Es war zugleich Sitz des Gendarmeriebezirks Radolfzell. Die Leitung hatte Gendarmerie-Oberwachtmeister Jakob Bögt (1938).

Das Gefängnis befand sich in der Jakobstr., gegenüber der Realschule. Erbaut 1869, diente es bis 1940 als Gerichtsgefängnis. Zu Beginn des Jahres 1941 wurde es als Jugendarrestanstalt fortgeführt. Ihre örtliche Zuständigkeit erstreckte sich auf sämtliche innerhalb des Landgerichtsbezirks Konstanz zu Dauer- oder Kurzarrest von mehr als drei Tagen verurteilten Jugendlichen und war bis zum 19. April 1945 in Betrieb. Beim Einzug der franz. Truppen am 25. April 1945 befand sich kein Gefangener mehr in der Anstalt.

Gefangnis Luisenplatz Vor 1933  
Luisenplatz mit Realschule (seit 1908), Scheffel-Denkmal (seit 1891) und Gefängnis (genannt „Café Achteck“), zeitgenössische Ansichtskarte, um 1915.

Gefangnis Radolfzell  
Gefängnis am Luisenplatz, vor dem Abriss 1967. Foto-Archiv Liedl.

Geheime Staatspolizei

Die Gestapo ging 1933 im Zuge der Machtergreifung aus den Abteilungen und Dienststellen der politischen Polizei der Weimarer Republik hervor. Die vor allem zu Beginn geringe Anzahl der Beamten, ca. 50 in ganz Baden, in den Gestapodienststellen darf nicht über ihre Wirkmächtigkeit hinwegtäuschen: Die Gestapo hatte die Möglichkeit jederzeit Personal und Ressourcen der Ordnungspolizei in Anspruch zu nehmen, und sie konnte - anders als die politische Polizei der Weimarer Republik, die vorwiegend beobachtete und sammelte - willkürlich foltern, morden oder dauerhaft in „Schutzhaft“ nehmen. „Schutzhaft“ war in der Regel gleichbedeutend mit der Einweisung in ein Konzentrationslager. Selbst Entlassungen aus einem KZ gingen wiederum nur mit Zustimmung der Gestapo.1

In den Anfangsjahren des Nationalsozialismus galt es, den politischen Gegner zu vernichten und das neue Regime zu stabilisieren. In den Kriegsjahren verlagerten sich die Aufgaben in Richtung Disziplinierung der Bevölkerung und Unterdrückung von Kritik, der Verfolgung von Deserteuren sowie der Überwachung und Repression der ausländischen ZwangsarbeiterInnen.

Gestapo-Außenstelle in Konstanz

Die für Radolfzell mitzuständige Konstanzer (Gestapo-)Außenstelle des Landespolizeiamts Karlsruhe wurde 1933 bei der bisherigen Fahndungspolizei-Abteilung der Polizei eingerichtet. Sie erhielt den Status eines Grenzpolizeikommissariats. Die Gestapo war erst im Bezirksamtsgebäude der Stadt, Lutherplatz 12, untergebracht, im Jahr 1938 zog sie dann um in die Mainaustr. 29. Leiter: Jakob Weyrauch.

Die Konstanzer Gestapostelle war zuständig für die Amtsbezirke Konstanz, Engen, Meßkirch, Pfullendorf, Stockach und Überlingen. Folgende Grenzpolizeiposten und Nebenstellen gehörten ebenfalls zur Konstanzer Gestapo: Konstanz (Hafen, Bahnhof), Kreuzlingen, Emmishofen, Tengen, Gailingen, Singen und Gottmadingen (letztere beiden Posten gingen 1941 an die Singener Gestapo-Dienststelle).

Gestapohaft in Radolfzell

Im Radolfzeller Gefängnis saßen nicht nur Radolfzeller ein. Vielmehr wurde es als Drehscheibe und Zwischenhaftanstalt für Gefangene aus der ganzen Region gebraucht. So landeten hier jüdische Bürger von der Höri und aus dem Hegau vor und nach der Reichspogromnacht im November 1938 und - unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 - viele Kommunisten, Gewerkschafter und aus anderen Gründen Verfolgte aus Singen.

  • Dr. Markus Mordechai Bohrer (1895-1938), letzter Rabbiner von Gailingen, wurde wegen Fluchthilfe am 20. Oktober 1933 in „Schutzhaft“ genommen und kam für zwei Tage in das Gefängnis von Radolfzell. Anfang 1938 wegen angeblichen Verstoßes gegen das "Blutschutzgesetz" zu zwei Monaten Haft verurteilt; die Rabbinerfamilie hatte eine „arische“ Haushälterin unter 45 Jahren angestellt. Am 10. November 1938 wurde Mordechai Bohrer zusammen mit vielen anderen jüdischen Männern aus Gailingen und Wangen in Lastwagen der Radolfzeller SS nach Konstanz und von dort per Zug in das KZ Dachau deportiert, wo er am 30. Dezember 1938 starb.2
  • Moritz Moses Friesländer (4.4.1872-1941), Kaufmann in Gailingen. Wegen Vergehens gegen das „Blutschutzgesetz“ (die Familie Friesländer beschäftigte eine nichtjüdische Waschfrau unter 45 Jahren) wurde Moses Friesländer Anfang 1937 verhaftet und zu zwei Montaten Gefängnis verurteilt, die er im Radolfzeller Gefängnis verbüßte. Zusammen mit seiner Frau Berta, geb. Bloch (1896-1993) und Sohn Julius (geb. 20.11.1937) wurde er im Rahmen der „Wagner-Bürckel-Aktion“ am 22. Oktober 1940 ins südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert. Moses Friesländer starb 1941 im Lager Rivesaltes.3
  • Albert Bronner (1901-1945), Maschinenformer aus Singen und Zeuge Jehovas wurde im April 1938 wg. Verweigerung der Kriegsproduktion von der Gestapo verhaftet und im Gefängnis Radolfzell in Schutzhaft genommmen. Es gab kein Gerichtsverfahren. Drei Wochen später kam er ins KZ Dachau, später ins KZ Mauthausen. Er starb am 20. Juni 1945, kurze Zeit nach der Befreiung des KZ durch die Amerikaner.4 5
  • August Hampp (1888-1940), der Singener Kaufmann und Arbeiter wurde wegen Vergehens gegen das sogenannte „Heimtückegesetz“ am 17. September 1938 an seinem Arbeitsplatz bei Fahr in Gottmadingen verhaftet und kam in Untersuchungshaft in das Radolfzeller Gefängnis. Angeklagt wegen „nichtöffentlicher, gehässiger, hetzerischer und von niedriger Gesinnung zeugender böswilliger Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP“, verurteilte ihn das Sondergericht Mannheim am 3. Feburar 1939 zu 1 Jahr und 3 Monaten Gefängnis. Er wurde jedoch unmittelbar nach der Urteilsverkündung in das KZ Neuengamme bei Hamburg überstellt. Die Strafe hätte formell am 3. Feburar 1940 enden müssen. Am 10. Oktober 1940 verbrachte man ihn aus Neuengamme in das KZ Dachau, wo er am 5. Dezember 1940 angeblich an „Lungenentzündung“ starb.6
  • Johann Ehinger (1890-1943), als KPD-Mitglied schon vor 1933 entlassen, wurde im Jahr 1933 das erste Mal verhaftet und im Gefängnis Radolfzell in „Schutzhaft“ genommen. Spätere Verhaftung und ein Hochverratsprozess wg. staatsfeindlicher Äußerungen führten zu einer Gefängnisstrafe. Im Dezember 1943 kam er als politischer Häftling ins KZ Mauthausen und starb dort wenige Wochen später. (7)
  • Ludwig Deuring (1889-1969), Dreher. Mitglied der KPD, für die KPD Mitglied im Radolfzeller Bürgerausschuss bis 1933. Schutzhaft 3.3.1933-4.5.1933 im Radolfzeller Gefängnis. Erneute Verhaftung durch Gestapo (Name: Klingele) am 24.10.1938. Untersuchungshaft bis 28. Februar 1939 im Radolfzeller Gefängnis. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ „begangen durch Mundpropaganda“ verurteilt zu 20 Monaten Zuchthaus: Steinbrucharbeiter in Ludwigsburg und Rottenburg, Arbeitskommando Aichholzhof. Entlassung am 25.6.1940. Erneute Verhaftung am 22.8.1944 ("Aktion Gitter"). Bis 24.9. 1944 im KZ Natzweiler und im KZ Dachau. Deuring gehörte 1945 zum ersten Radolfzeller Gemeinderat der Nachkriegszeit und starb 1969 in Radolfzell.7 Für Alma und Ludwig Deuring wurden im Jahr 2014 je ein Stolperstein in der Seestr. 59 verlegt.
  • Karl Teufel (1890-1964), Mitglied der KPD und im Radolfzeller Bürgerausschuss bis 1933, wurde bereits am 3. März 1933 von der Gestapo verhaftet und kam in das Radolfzeller Gefängnis in Untersuchungshaft. Am 24.10.1933 verurteilte ihn das Amtsgericht-Schöffengericht Konstanz wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu vier Monaten Gefängnis. Am 22. August 1944 wurde Karl Teufel im Rahmen der Aktion „Gitter“ in das KZ Natzweiler verschleppt. Von dort verbrachte man ihn am 6. September 1944 in das KZ Dachau, von wo er am 14. September 1944 in das KZ Mauthausen überstellt wurde. Dort wurde Teufel am 26. Oktober 1944 entlassen. Für Karl Teufel wurde im Jahr 2015 ein Stolperstein in der Konstanzer Str. 30 verlegt.
  • Carl Diez (1877-1969), Reichstagsabgeordneter für die Zentrums-Partei, wurde bald nach der Machtergreifung im Jahr 1933 verhaftet. Er saß ab 21. September 1933 vier Wochen im Radolfzeller Gefängnis, wurde seiner Ämter enthoben und von der Gestapo überwacht. Vom 28. Juni bis 19. Juli 1944 befand sich Diez mit seiner Tochter Jolanda im Konstanzer Gefängnis in Untersuchungshaft wegen angeblichen Abhörens ausländischer Sender. Wenige Tage nach dem misslungenen Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Diez im Rahmen der „Aktion Gitter“ erneut verhaftet und sollte in das KZ Dachau verbracht werden. Durch Intervention seines Sohns Theopont wurde dies verhindert. Dieser hatte gegenüber den Parteiverantwortlichen argumentiert, es sei „eine Schande, einen Vater zu inhaftieren, von dem drei Söhne an der Front kämpften.“ Diez hat die Gesamtdauer seiner Verhaftungen später auf 13 Wochen beziffert.8 Für Carl Diez wurde im Jahr 2016 ein Stolperstein in der Jakobstr. 5 verlegt.
  • Max Porzig (1879 - 1948), ein Singener Sozialdemokrat, wurde bereits 1933 verhaftet und kam ins Radolfzeller Gefängnis am Luisenplatz. Dort saß er zunächst zusammen mit dem Zentrumsabgeordneten Carl Diez und dem Fabrikanten Schroff, ebenfalls Zentrum, in einer Zelle. Im Rahmen der „Aktion Gitter“ am 22. August 1944 wurde Porzig von der Gestapo erneut verhaftet und kam zunächst ins KZ Natzweiler, am 6. September 1944 in das KZ Dachau und das Außenlager Allach. Max Porzig wurde am 24. September 1944 wieder entlassen und starb 1948 an den Spätfolgen seines KZ-Aufenthalts.9
  • Wilhelm Haaf (1893-1947) wurde am 4. Mai 1939 von der Gestapo verhaftet und in das Radolfzeller Gefängnis gebracht, wo er bis zum 28. Mai 1939 blieb. Angeklagt und verurteilt wegen Vergehens nach §2 des „Heimtückegesetzes“, kam er am 28.5.1939 in das Strafgefängnis Mannheim. Er wurde wegen „nicht öffentlichen, gehässigen, hetzerischen und von niedriger Gesinnung zeugenden, böswilligen Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP“ verurteilt. In einem Gespräch habe Haaf u.a. geäußert: „Meine älteste Tochter, die BDM-Führerin ist, befindet sich in Holland, die hat die Nase voll bekommen vom Dritten Reich u.v.m.“ Der an Multipler Sklerose erkrankte und zuletzt vollständig gelähmte Haaf starb am 2. September 1947, kurz vor seinem 54. Geburtstag, an den Spätfolgen der Haft. Für Wilhelm Haaf wurde im Jahr 2015 ein Stolperstein in der Seetorstr. 1 verlegt.

Anzeigen und Denunziationen aus der Bevölkerung

Die Gestapo hatte keineswegs ihre Augen und Ohren überall, das war schon wegen der relativ dünnen Personaldecke gar nicht möglich. Die Konstanzer Außenstelle hatte 1937 lediglich 11 Beamte.10

Vielmehr war die Gestapo angewiesen auf Anzeigen und Denunziationen aus der Bevölkerung: von Parteigenossen, Mitgliedern der vielfältigen NS-Organisationen, Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunden und Verwandten. Die Motivlage für das Denunzieren kann zum überwiegenden Teil in privaten Beweggründen wie Neid oder Missgunst gefunden werden.

In der Regel gingen die Anzeigen bei der örtlichen Polizei ein, die sie umgehend an die zuständige Gestapostelle weiterleitete. Je nach Zielgruppe lag der Denunziationsanteil aus der Bevölkerung zwischen einigen Prozent (9-15% bei Homosexualität), einem Viertel (Verfolgung der badischen Zeugen Jehovas), über der Hälfte („Rassenschande“ oder „Judenfreundschaft“ in Würzburg), oder bis zu 87,5% (bei "Heimtückefällen" in Saarbrücken).

Denunziation bei einem Firmenbesuch 1937: Der Fall Moritz Max Strauss

„Hitler ist ein Scheißkerl, weil er auf die Bolschewisten in Spanien hat schießen lassen.“ - Diesen Satz soll der Ulmer Handelsvertreter Moritz Max Strauss (1884-1941) am 1. Juni 1937 bei einem Firmenbesuch in Radolfzell geäußert haben. Ferner habe er durch „lächerliche Marschbewegungen das Ansehen der SA heruntergesetzt.“ Denunziert hatten ihn die Geschäftsinhaberin Wilhelmine und deren Tochter Helma Hamma des Möbelhauses Hugo Hamma in der Adolf-Hitler-Straße 15. Strauss wurde von der zuständigen Gestapo Außenstelle Ulm verhört und bestritt, diese Aussage in dem Radolfzeller Möbelhaus gemacht zu haben. Die Denunziantinnen blieben jedoch bei ihrer Aussage, die sie im Oktober 1937 vor der Kriminalabteilung Radolfzell der Konstanzer Kriminalpolizei, Bezirksamt Konstanz, zu Protokoll gegeben hatten. Wegen „heim­tückischer Angriffe auf Staat und Partei“ (Heimtückegesetz) wurde Strauss am 22. April 1938 vom Sondergericht Mannheim zu einem Jahr Haft verurteilt. Nach wenigen Wochen wurde er ins KZ Dachau überstellt und im September 1938 ins KZ Buchenwald transportiert. Strauss, der jüdischer Herkunft war, hatte 1919 die nicht-jüdische Kriegswitwe Else Rosa Falch in Ulm geheiratet und ein kleines Handelsunternehmen gegründet. Nach 1933 arbeitete er als Handelsvertreter für die Ulmer Polstermöbelfabrik Metzger & Co im Außendienst und besuchte in den Folgejahren mehrmals auch die Möbelhäuser Mattes und Hamma in Radolfzell.

Nach der Deportation ihres Mannes ins KZ ließ sich Else Strauss überreden, die Scheidung einzureichen, um weitere Benachteiligungen für sich und Tochter Erika zu vermeiden. Strauss verlor damit jeglichen Schutz, den sein Status als jüdischer Partner in einer sogenannten Mischehe bis dahin noch bedeutet hatte. Im Rahmen der "Aktion 14f13" wurde Strauss am 14. Juli 1941 in die NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein transportiert und noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet. Seit dem 13. Juli 2018 erinnert in der Ulmer Schwörhausgasse 15 ein Stolperstein an Moritz Max Strauss.11

Max Moritz Strauss Ulm  
Stolperstein für Moritz Max Strauss, Ulm. Fotografie: Wikimedia Commons.

Quelle: Sondergerichtsakte Mannheim zu Moritz Strauss, GLA Karlsruhe, http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=4-3583453

NS-Sondergerichtsverfahren

Beim Generallandesarchiv Karlsruhe (Bestand 507) sind 31 Ermittlungs- und Verfahrensakten des Sondergerichts Mannheim der Jahre 1933-1945 mit Bezug zu Radolfzell archiviert. Die Beschuldigten und Verurteilten mit Geburtsort und/oder Wohnort und/oder mit Tatort Radolfzell waren angeklagt aufgrund des „Heimtückegesetzes“ und wegen „Rundfunkverbrechen“. GLA Karlsruhe, Findbuch, Sondergerichtsakten MannheimDarunter befinden sich auch die Verfahrensakten zu Ernst Gnirß, Wilhelm Haaf und Ernst Ludwig Kreer, für die bereits Stolpersteine verlegt wurden.

Beim Staatsarchiv in Freiburg sind 727 Akten von über 1000 Sondergerichtsverfahren der Jahre 1941-1945 aus Südbaden archiviert. Die damals Beschuldigten waren angeklagt aufgrund des "Heimtückegesetzes" (30%), wegen "Rundfunkverbrechen", "Kriegswirtschaftsverbrechen" (23%), wegen der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (14 %)12 oder Delikten nach der "Volksschädlingsverordnung" sowie wg. Diebstählen, Beleidigungen oder Gewalttaten nach der „Gewaltverbrecherverordnung“. Todesurteile hatten dabei einen Anteil von 3% an den verhängten Strafen.

Die Akten des Sondergerichts Freiburg 13 im Staatsarchiv Freiburg beinhalten den Fall der 40-jährigen Lagerhelferin Elsa Henke aus Rheinfelden-Nollingen, Ehefrau des dortigen NSDAP-Ortsgruppenleiters Hermann Henke, die noch am 21. April 1945 wegen „nicht bestimmungsgemäß abgelieferter, (…) zur eigenen Verwendung zurückbehalter“ Wäschestücke zum Tode verurteilt wurde. Es war das letzte Todesurteil des Sondergerichts Freiburg, ausgesprochen in der damaligen Ausweichstelle Radolfzell. Gefällt wurde es wegen „Verbrechen nach der Verordnung zum Schutz der Sammlung von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für die Wehrmacht und den Deutschen Volkssturm“. Am selben Tag waren französische Truppen bereits in Freiburg eingerückt und hatten der Nazi-Herrschaft ein Ende bereitet – daher das Ausweichen an den Bodensee. Zur Vollstreckung des Todesurteils kam es nicht mehr.14

Die Akten des Sondergerichts Karlsruhe/Mannheim im Staatsarchiv Freiburg beinhalten u.a. die folgenden Verfahren mit Bezug zu Radolfzell, Markelfingen und Güttingen:

  • gegen den Radolfzeller Versicherungsoberinspektor Wilhelm Haaf, der am 10. Mai 1939 in Radolfzell verhaftet wurde (siehe oben).
  • gegen den Postinspektoranwärter Gustav Erich Juchler, dessen Anklagen wg. Urkundenbeschädigung, Amtsunterschlagung, Verletzung des Postgeheimnisses und Verwahrungsbruch als „Verbrechen gegen die Volksschädlingsverordnung“ verhandelt wurden (StAF A 47/1 Nr. 622, 623). Ähnliches gilt bei Ernst Boos für den angeblichen Raub von Transportgütern und Franz Xaver Peter bei Diebstahl. (StAF A 47/1 Nr. 1633-1636 und 2349). Mit der "Volksschädlingsverordnung" konnte ab dem 5. 9.1939 für fast jede Straftat die Todesstrafe verhängt werden. Bei Gewaltverbrechen war dies sogar vorgeschrieben.
  • gegen den Arbeiter Ludwig Kehrer aus Markelfingen wg. angeblicher „Wehrkraftzersetzung“ (StAF A 47/1 Nr. 449-452)
  • gegen den Radolfzeller Schreinermeister Ernst Ludwig Kreer, der vom Sondergericht Mannheim am 20.9.1940 zu 2 Jahren und 8 Monaten Zuchthaus für das Hören ausländischer Sender, Verbreitung der abgehörten Nachrichten, die „die Widerstandskraft des deutschen Volkes“ gefährdeten ("Rundfunkverbrechen") und wegen staatsfeindlicher Äußerungen verurteilt wurde. Ernst Kreer, der zusammen mit Wilhelm Steinwedel (s.u.) in dieser Sache angeklagt worden war, verbüßte die Strafe, unter Anrechnung einer viermonatigen Untersuchungshaft, bis zu seiner Haftentlassung am 20.11.1942 im Zuchthaus Ludwigsburg. (StAF F196/1-1157)
  • gegen die Radolfzeller Karl Kornmaier und Johann Mahlbacher wegen staatsfeindlicher Äußerungen (StAF A 47/1 Nr. 1820 und 1766)
  • gegen den Müllermeister Jakob Gustav Rauch, der zwischen September 1939 bis Januar 1942 in Markelfingen Getreide schwarz gemahlen haben soll, was als „Verbrechen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung“ angeklagt wurde. (StAF A 47/1 Nr. 747)
  • gegen den Rentner Emil Georg Scherr, den Ankerwickler Friedrich Anton Schneider und den Eisenbahninspektor Max Ruf, alle aus Radolfzell, denen Vergehen gegen das "Heimtückegesetz" vorgeworfen wurde. (StAF A 47/1 Nr. 523, 1210-1213 und 1179)
  • gegen den Kernmacher Karl Schmid aus Güttingen wegen verbotenem Umgang mit Kriegsgefangenen in den Jahren 1940 bis 1941 ( StAF A 47/1 Nr. 1194 )
  • gegen den Radolfzeller Buchhändler Ferdinand Schmitz sowie Maria und Ludwig Braunschweig wg. „Verbrechen gegen die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (A 47/1 Nr. 230 und 1862)
  • gegen den Radolfzeller Monteur Wilhelm Steinwedel, der seit 20.7.1940 im Gerichtsgefängnis Konstanz in „Schutzhaft“ war und vom Sondergericht für den Oberlandesbezirk Karlsruhe in Mannheim am 20.9.1940 (Js 242/40) wegen „Verbrechens fortgesetzter Anhörung feindlicher und des schweizerischen Senders“ zu 1 Jahr und 3 Monaten Zuchthaus verurteilt wurde. Hierauf wurden 2 Monate U-Haft angerechnet. (StAF F196/1 - 1426)
  • gegen den Radolfzeller Zahnarzt Dr. Julius Walser, der zu 10 Monaten Zuchthaus für das Hören ausländischer Sender ("Rundfunkverbrechen") verurteilt wurde. Ein Gnadengesuch wurde abgelehnt, später wurden die letzten 2 Monate seiner Haftstrafe erlassen. (StAF A 47/1 Nr. 700).15
  • Auch dem Kernmacher Ernst Wenger wurde vorgeworfen, in der Zeit von September 1939 bis Januar 1942 ausländische Sender abgehört zu haben. (StAF 47/1 Nr. 639). Relativ verbreitet war im Südwesten Deutschlands das Hören des Schweizer Senders Beromünster.16

Deserteure warteten in Radolfzell auf Hinrichtung

Auch Fahnenflucht war im Nationalsozialismus ein Vergehen nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung und wurde meist mit dem Tod bestraft. Von etwa 30.000 Todesurteilen wurden etwa 23.000 vollstreckt.

Im Grenzgebiet zur Schweiz wurden immer wieder Deserteure aufgegriffen, so z.B. fünf Deserteure im Februar 1944. Sie wurden in Engen von einem Feldgericht zum Tode verurteilt und auf einem Konstanzer Schießplatz hingerichtet.17

Ebenfalls nach Moser befanden sich zu Kriegsende noch ein Dutzend Deserteure in den Gefängnissen von Radolfzell und Konstanz, die alle überlebt haben.18

 

Literatur

  • Bauz, Ingrid; Brüggemann, Sigrid; Maier, Roland (Hrsg.): Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Schmetterling, 2012.
  • Paul, Gerhard; Mallmann, Klaus-Michael (Hg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. Heimatfront und besetztes Europa. Primus. Darmstadt 2000.
  • Schadt, Jörg (Bearb.) / Stadtarchiv Mannheim (Hg.): Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933-1940. Kohlhammer, Stuttgart 1976
  • Stolle, Michael: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich. UVK-Verlagsgesellschaft, Konstanz 2001
  • Roser, Hubert (Hg.): Widerstand als Bekenntnis. Die Zeugen Jehovas und das NS-Regime in Baden und Württemberg. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 1999

 

Einzelnachweise

1 Vgl.: Stolle, Michael: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich. UVK-Verlagsgesellschaft, Konstanz 2001.
2 Friedrich, Eckhardt / Schmieder-Friedrich, Dagmar: Die Gailinger Juden. Materialien zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Gailingen, Konstanz 1981.
4 Geschichtswerkstatt Singen (Hg.): „Seid letztmals gegrüßt“. Biografische Skizzen und Materialien zu den Opfern des Nationalsozialismus in Singen. Singen 2005.
5 Roser, Hubert (Hrsg.): Widerstand als Bekenntnis. Die Zeugen Jehovas und das NS-Regime in Baden und Württemberg. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 1999.
6 Recherche Markus Wolter. Vgl.: Geschichtswerkstatt Singen (Hg.): „Seid letztmals gegrüßt“. Biografische Skizzen und Materialien zu den Opfern des Nationalsozialismus in Singen. Singen 2005.
7 Vgl. hierzu: Staatsarchiv Freiburg, Spruchkammer Südbaden: DNZ-Akten, Bestand D 180/2, Nr. 5234; Staatsarchiv Freiburg, Bestand F 196/1: Landesamt für Wiedergutmachung, Außenstelle Freiburg, F 196/1 Nr. 152; Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand E 356 d V: Strafanstalt Ludwigsburg mit Zweiganstalt Hohenasperg: Gefangenenpersonalakten, Deuring, Ludwig, Delikt: Vorbereitung zum Hochverrat (1939-1940). E 356 d V Bü 2404.
8 Vgl. u. zit. nach: Reiner Haehling von Lanzenauer: Carl Diez, in: Ottnad, B. / Sepaintner, F.L. (Hg.): Baden-Württembergische Biographien Band III, Stuttgart, Kohlhammer 2002, S. 32-34.
9 Geschichtswerkstatt Singen (Hrsg.): „Seid letztmals gegrüßt“. Biografische Skizzen und Materialien zu den Opfern des Nationalsozialismus in Singen. Singen 2005; Porzig, Max: Schulung: Ein Tatsachenbericht aus den Konzentrationslagern Natzweiler, Dachau, Allach. Neuaufl. (Nachdr.) d. Ausg. Singen, 1945: Geschichtswerkstatt Singen. Singen 1994.
10 Stolle, Michael: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich. UVK-Verlagsgesellschaft, Konstanz 2001, S. 94.
11 Recherche: Dr. Mark Tritsch, Initiative Stolpersteine Ulm, "Scheidung bedeutet den Tod", Südwestpresse Ulm, 12. Juli 2018 und Markus Wolter; vgl. Moritz Max Strauss im Gedenkbuch des Bundesarchivs Berlin.
12 Zumeist wg. "Wehrkraftzersetzung", Wehrdienstentziehung oder Beihilfe zur Fahnenflucht.
13 Vgl. hierzu: Michael P Hensle, Vorw. Wolfgang Benz: Die Todesurteile des Sondergerichts Freiburg 1940-1945. Eine Untersuchung unter dem Gesichtspunkt von Verfolgung und Widerstand. Belville 1996.
14 Vgl.: Badische Zeitung, N.N.: Terror hält sich bis zum Kriegsende (=BZ-Serie: "Rheinfelden unterm Hakenkreuz" V), Badische Zeitung, 17.9.2010.
15 Vgl. Hensle, Michael: „Rundfunkverbrechen“ vor nationalsozialistischen Sondergerichten. Eine vergleichende Untersuchung der Urteilspraxis in der Reichshauptstadt Berlin und der südbadischen Provinz. Diss., Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin 2001, S. 361.
16 Vgl. Renz, Ulrich: Ein Sender wie ein ferner Leuchtturm. Zur Bedeutung von Radio Beromünster in der NS-Zeit, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 38:152 (1999), S. 114-122.
17 )Moser, Arnulf: Doppelmord in der Konstanzer Bodanstrasse. Zur Tat eines flüchtigen deutschen Deserteurs im November 1943. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, Jg. 127, 2009, S. 170, Online: http://www.bodenseebibliotheken.de/viewer.jsf?page=vgeb-j2009-t-A169&jftfdi=&jffi=viewer.
18 Moser, Arnulf: Fünf Deserteure im Pfeiferhölzle verscharrt. In: Südkurier Konstanz, 25.8.2009.