Die ehemalige SS-Kaserne, das KZ-Außenkommando und der SS-Schießstand waren seit 2011 Gegenstand offizieller Radolfzeller Gedenkpolitik. Auch die Straßenbenennungen mit Bezug zur Kaserne, dem deutschen Militarismus und Rassismus wurden heiss diskutiert.
Aus den offiziellen "Leitlinien der Radolfzeller Erinnerungskultur" (2015):
- Städtische Erinnerungskultur leistet einen Beitrag dazu Spuren verschiedener Zeitgeschichten im Stadtbild zu erhalten und durch temporäre und dauerhafte Installationen im öffentlichen Raum die Stadt als Erinnerungsort – auch für Besucherinnen und Besucher der Stadt – sichtbar zu machen.
- Formate des Gedenkens sollten mit Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn verbunden sein.
- Der Anspruch der Radolfzeller Erinnerungskultur ist es, Kindern und Jugendlichen Geschichte erfahrbar zu machen.
- Insbesondere bei kritischen Sachverhalten werden Expertisen von WissenschaftlerInnen als unabhängige Meinung hinzugezogen.
- Die Leitlinien für die Kultur des Gedenkens und Erinnerns sind für Anregungen offen und tragen dazu bei, den öffentlichen Diskurs über zeitgeschichtliches Erinnern und Gedenken in der Stadt lebendig zu halten."
Inhaltsverzeichnis
[Ein-/Ausblenden]Gedenkstätten
Der Radolfzeller Gemeinderat hat sich in seiner Sitzung vom 11.10.2011 mehrheitlich für die Realisierung eines Entwurfs des Pforzheimer Künstlers René Dantes (geb. 1962) zur Gestaltung einer „Erinnerungsstätte“ an der Kaserne (Errichtung voraussichtlich 2012) entschieden. Die Kosten (EUR 10.000 für vier Informations-Stelen und EUR 30.000 für eine Edelstahl-Skulptur) werden von der Stadt getragen.1
„Erinnerungsstätte“ vs. Gedenkstätte
Der anfänglich gewählte Terminus „Erinnerungsstätte“ anstelle von „Gedenkstätte“ schien nicht ganz zufällig, angesichts eines Konzeptes, das nur zum Teil Gedenken an die NS-Zeit zum Ziel hat. Auf den Informationsstelen sollte merkwürdigerweise im Anschluß an die Dokumentation der Geschichte der SS-Kaserne auch die Nutzung nach 1945 durch die Franzosen und die heutige kommerzielle Nutzung als Industriepark beschrieben werden. Man kann aber nicht gut mit einem Mahnmal an den Ort einer Waffen-SS-Kaserne bzw. ein KZ-Außenkommando erinnern und gleichzeitig Werbung für ein modernes Gewerbegebiet (RIZ) machen. Letzteres braucht schlechterdings keinen Ort des Gedenkens. Wer an beide Funktionen und an alle Zeitabschnitte der Geschichte des Kasernenareals gleichermaßen „erinnern“ will, missversteht den Zweck, den eine „Gedenkstätte“ zu erfüllen hat.
In einer städtischen Arbeitsgruppe wurde auch deswegen über ein Jahr lang um jeden Satz gerungen, der auf den vier geplanten Informationsstelen vor der ehemaligen Kaserne stehen soll. In öffentlicher Sitzung des Gemeinderats stimmten die Stadträte schließlich am 16.10.2012 u.a. für die von der Arbeitsgruppe erarbeiteten Textentwürfe (Stelen I und IV: Achim Fenner, Stelen II und III: Markus Wolter).2
Die Gedenkstätte kurz nach ihrer Einweihung 2013. Fotografie: Alfred Heim.
Am 8. September 2013, dem "Tag des offenen Denkmals", der in diesem Jahr unter dem Motto „Jenseits des Guten und Schönen: Unbequeme Denkmale?“ stand, wurde das Ensemble aus Gedenkskulptur und Informationstafeln im Eingangsbereich der ehemaligen SS-Kaserne mit einem Festakt eingeweiht. Es ist zusammen mit den Informations- und Gedenktafeln am Schießstand und dem Gurs-Mahnmal Teil einer dezentralen NS-Gedenkstätte der Stadt Radolfzell.3 Der ehemalige SS-Schießstand und die ehemalige SS-Kaserne wurden im August 2014 von der Landeszentrale für politische Bildung, Stuttgart, formell in die "Liste der Gedenkstätten in Baden-Württemberg" aufgenommen.
Die Gedenkstätte im Dezember 2018; die Trauerweide fiel 2014 einem Sturm zum Opfer; die verschmutzten Informationstafeln II und III zeigen Ansiedlungen von Flechten und Moos. Fotografien: Markus Wolter.
Die Texte auf den vier Informationstafeln:
Stele I: "Gebaut für die Ewigkeit"
Stele II: "Täter, Opfer, Zuschauer"
Stele III: Die Waffen-SS-Unterführerschule und das KZ-Außenkommando Radolfzell
Stele IV: Aus Besatzern werden Freunde / Eine Investition in die Zukunft - Gewerbegebiet Nord
Gedenkstätte "Ehemaliger Schießstand der Waffen-SS Radolfzell"
Am 16.11.2012 wurde im Rahmen einer offiziellen Gedenkveranstaltung eine Informationstafel am ehemaligen SS-Schießstand der Öffentlichkeit übergeben.
Fotografie: Markus Wolter, 2012.
Zur Großansicht: Wikimedia commons
Konzeption und Ausführung: Projektgruppe „Radolfzeller Gedenkstätten“ (Text: Markus Wolter, Gestaltung und Layout: Alfred Heim, Evelyn Heim).
Beschädigung - Verwahrlosung - Erneuerung
Zehn Jahre nach ihrer Installation 2012 bedarf die beschädigte und verschmierte Informationstafel am ehemaligen SS-Schießstand dringend einer Erneuerung.
Ihr beschädigter Zustand (2022) verdeutlicht exemplarisch, wie die von der Stadtverwaltung 2015 verkündeten „Leitlinien zur Erinnerungskultur" an dieser seit 2014 anerkannten KZ-Gedenkstätte immer wieder unterlaufen und konterkariert werden: Viehbeweidung incl. Stallhütte und Elektrozaun (!) um das vom Liegenschaftsamt als "Trockenwiese" unter der Hand vergebene Areal 2017-2020,4 Absperrung der drei Kurzbahnen "aus versicherungstechnischen Gründen" 2019, Verzicht auf geeignete Erhaltungs- , Sichtbarmachungs- und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch und Verwahrlosung der Gedenkstätte. Eine angemessene Gedenkstättenarbeit wurde dadurch in den letzten Jahren deutlich beeinträchtigt, wenn nicht ganz unmöglich.
"Betreten verboten! Einsturzgefahr!" - und eine Stadtverwaltung, die seit drei Jahren verspricht, sich "Gedanken" zu machen.
Absperrungsgitter an den Kurzbahnen, ohne das immer wieder beschädigte Gedenkbuch.
Im April 2023 wurde die beschädigte und verschmierte Infotafel durch eine neue, textlich leicht überarbeitete Tafel ersetzt. Die Mittel hierzu wurden vom Radolfzeller Gemeinderat 2022 bewilligt. Auf der Infotafel wird das Anwesen des ehemaligen SS-Schießstandes nun erstmals ausdrücklich als "Gedenkstätte" bezeichnet und mittels eines QR-Codes am unteren Rand auf die Gedenkstätten-Seite der Landeszentrale für politische Bildung, Baden-Württemberg, verlinkt. Verantwortlich für Recherche, Tafeltext und Gestaltung ist wiederum die "Projektgruppe Radolfzeller Gedenkstätten", Alfred Heim und Markus Wolter, die von der Stadtverwaltung erneut damit beauftragt worden waren.
Fotografien: Markus Wolter, 5. September 2022 / 8. April 2023
Politik der Straßenbenennungen
Walter-Schellenberg-Straße
Eine Straße auf dem Gebiet einer ehemaligen SS-Kaserne, die lt. städtischem Bebauungsplan seit 1991 den Namen Walter-Schellenberg-Straße trägt, sorgt für Irritationen. Nicht alle dürften wissen, dass hier nicht der verurteilte Kriegsverbrecher Walter Schellenberg (SS-Brigadeführer, Generalmajor der Polizei und Leiter der vereinigten Geheimdienste von SD und Abwehr im Reichssicherheitshauptamt), sondern der gleichnamige Vorstandsvorsitzende des Radolfzeller Unternehmens Schiesser-AG 1936-1945 gemeint ist. Um diese Irritationen zu vermeiden, müsste eine biografische Zusatzinformation am Straßenschild angebracht werden.5
Spätestens dann müsste allerdings auch die Frage beantwortet werden, welches die „Verdienste“ des Schiesser-Vorstandsvorsitzenden Schellenberg (1910-1992) gewesen sein mögen, die eine Straßenbenennung im Jahr 1991 rechtfertigten. So wurde unter Schellenbergs Führung der Schiesser-AG am 1. Mai 1940 im betrieblichen Leistungskampf 1939/40 von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) der Titel „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ verliehen. 6
Überdies setzte die Schiesser-AG nach Beginn des Russlandfeldzugs 1941 ukrainische Zwangsarbeiterinnen in ihrer Kriegsproduktion ein.7
Briefkopf der J. Schiesser AG, 1938. "Vorstand: Walter Schellenberg". Sammlung Markus Wolter
Jakob-Dörr-Straße
In der Nähe der längst abgerissenen KZ-Unterkünfte wurde auf dem ehemaligen Kasernenareal 2004 eine Sackgasse nach dem 1941 von SS-Wachpersonal erschossenen KZ-Häftling Jacob Dörr (1916-1941) benannt. Das Straßenschild blieb ohne Kommentierung, weshalb nicht nur bei den Anwohnern bis heute weitgehend unbekannt blieb, dass mit dieser Straßenbenennung ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft in Radolfzell gewürdigt werden soll. Erst auf einer Informationstafel der 2013 eingeweihten Gedenkstätte werden die Hintergründe dargestellt.
Leonhard-Oesterle-Str.
2016 wurde in einem Neubaugebiet im Norden der Stadt eine geplante Straße nach Leonhard Oesterle benannt, der zwischen 1941 und 1943 Häftling im KZ-Außenkommando Radolfzell gewesen war und dem zusammen mit dem tschechischen Mithäftling Oldřich Sedláček die Flucht in die Schweiz gelang.
Landserweg, heute: Fritz-Klose-Weg
Geschichtsklitterung und Renazifizierung 1950-1956 - Von den „ehemaligen Wehrmachtswohnungen“ in der „Kasernensiedlung“ zum „Landserweg“
„Ehem. Wehrm.-Wohnungen“(!). Einwohnerbuch der Stadt Radolfzell, Konstanz, Stadler 1952.
„Landserweg“: Der „Name ehrt den einfachen Soldaten der beiden Weltkriege.“ Einwohnerbuch der Stadt Radolfzell, Konstanz, Stadler 1956.
Die im Rahmen des Kasernen-Neubaus 1937 angelegte „Hans-Cyranka-Str.“, benannt nach dem Hamburger SS-Angehörigen, „Blutzeugen der Bewegung“ und „alten Kämpfer“ Hans Cyranka (1910-1932), führte von der damaligen SS-Wohnsiedlung bis zum Stabsgebäude der SS-Kaserne an der Steißlinger Straße; der heutige „Landserweg“ endet an der „Kasernenstraße“.
Durch Beschluss des Gemeinderates wurde die nach 1945 gebotene Umbenennung der „Hans-Cyranka-Str.“ offiziell erst im Jahr 1956 vorgenommen; wie auch die anderen, nach weiteren „Alten Kämpfern“ benannten Straßen in der ehemaligen SS-Wohnsiedlung war sie zunächst namenlos geblieben. Den Einwohnerbüchern zufolge wurde sie 1950-1956 ohne nähere Straßeneinteilung als „Kasernensiedlung“ bzw. „Wohnsiedlung bei der ehemaligen Kaserne“ geführt. Dass die aufgeführten „Blöcke I, II, IIa, III, IIIa und IV“ dabei fälschlich und offensichtlich wider besseres Wissen als „ehemalige Wehrmachts-Wohnungen“ bezeichnet werden, gibt zu denken und sollte wohl die spätere Namensgebung „Landserweg“ vorbereiten. Der Name bot dem Gemeinderat 1956 keinen Anlass für Kritik; auch nicht die damit verbundene und ausdrückliche „Ehrung des einfachen Soldaten der beiden Weltkriege“.8 Unkritisch und ohne zwischen Reichswehr- und Wehrmachtssoldaten zu differenzieren, bediente und tradierte man stattdessen vor allem das historisch falsche Stereotyp der vermeintlich „sauberen Wehrmacht“, deren Beteiligung an Kriegsverbrechen 1939-1945 man bis heute selbstredend unterschlägt.
Entlang der ehemaligen SS-Kaserne verlaufend, suggerierte der Name zudem, dass es sich um eine Wehrmachtskaserne gehandelt haben könnte, oder aber, bedenklicher noch, dass die hier 1937-1945 stationierten Angehörigen der Waffen-SS eben auch nur „einfache Soldaten“, „Soldaten wie andere auch“ gewesen wären - eine Problematik, die sich 1958 am Kriegerdenkmal fortsetzte und bis heute nicht gelöst ist.
Soldaten der Wehrmacht waren übrigens bis auf wenige Tage im April 1945 zu keiner Zeit in der Radolfzeller Kaserne stationiert.
Außer in Radolfzell gab es in Deutschland wohl keinen weiteren „Landserweg“, „Landserstraße“ oder eine ähnliche Straßen- oder Platzbezeichnung.
Der Begriff „Landser“ wurde und wird vor allem in rechtsextremen Kreisen und Publikationen (v.a. „Der Landser“-Heftromane) als Inbegriff des besagten „einfachen“ Wehrmachtsoldaten 1939-1945 verklärt und heroisiert. Auch eine Rechtsrock-Band aus Berlin trug diesen Namen. Sie war bis zu ihrem Verbot im Jahr 2003 die bekannteste Musikgruppe aus dem neonazistischen Milieu.
Fotografie um 1947, die ehemalige SS-Wohnsiedlung noch im Tarnanstrich. Sammlung Markus Wolter
Die SS-Wohnsiedlung 1938 an der „Hans-Cyranka-Str.“, dem späteren „Landserweg“. Fotografie Hillebrecht. Sammlung Markus Wolter
Der Landserweg. Links die alte Kasernenmauer, rechts die ehemalige SS-Wohnsiedlung.
Landserweg 11: Bundespolizeiinspektion Konstanz. Fotografien: Markus Wolter, Dezember 2018.
Eine Umbenennung des „Landserwegs“ wurde vor diesem Hintergrund dringend empfohlen; von Markus Wolter wurde in einer Initiativanfrage an den Gemeinderat „Fritz-Klose-Weg“ vorgeschlagen, nach dem - neben Jacob Dörr zweiten namentlich bekannten KZ-Häftling, der im KZ-Außenkommando Radolfzell gewaltsam zu Tode kam: Fritz Klose (1904-1943).
Straßenumbenennung 2019
Im Juni 2018 war die entsprechende Initiativanfrage an den Ältestenrat des Radolfzeller Gemeinderats übermittelt worden. Am 27. November 2018 beschloss der Gemeinderat, den „Landserweg“ in „Fritz-Klose-Weg“ umzubenennen. Der Beschluss wurde am 1. Februar 2019 u.a. mit dem Anbringen der neuen Straßenschilder umgesetzt; 2020 hat schließlich auch google-maps die Umbenennung vorgenommen.
Kasernenstraße
Im ersten Straßenverzeichnis 1950 erstmals und auch später noch lange als "Kasernenweg" ausgewiesen - "Führt von der Friedhofstraße zur Kaserne"; freilich ohne weitere historische Differenzierung.
Einzelnachweise