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Zwangsarbeit in Radolfzell

Während des Krieges wurden aus den von den Deutschen besetzten Staaten West- und Osteuropas etwa 4,6 Millionen Kriegsgefangene und 8,4 Millionen zivile ausländische, nichtjüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter verschleppt, in etwa 30.000 Lagern und Sammelunterkünften interniert und zur Arbeit für das NS-Regime gezwungen.1

Das System der Zwangsarbeit, mit dem der nationalsozialistische Staat den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel zu kompensieren suchte, umfasste alle Bereiche: Zwangsarbeiter arbeiteten in der (Rüstungs-) Industrie, der Landwirtschaft, in großen Staatsbetrieben ebenso wie in kommunale Behörden und Ämtern, Handwerksbetrieben und selbst in Privatfamilien. Bereits ab 1940 konnte die Landwirtschaft nur noch mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern die Nahrungsmittelproduktion den nötigen Standard halten. Ebenso war unter den Bedingungen des „totalen Krieges“ die Rüstungsindustrie nur durch eine immer größere Zahl von „Fremdarbeitern“ in der Lage, die Produktionszahlen aufrechtzuerhalten. Im Sommer 1943 war in Deutschland bereits fast jeder zweite Arbeiter in den „kriegswichtigen“ Betrieben und in der Landwirtschaft ein ausländischer, zwangsverpflichteter Zivilist, ein Drittel der Zivilarbeiter waren Frauen und davon wiederum fast 90 Prozent sogenannte „Ostarbeiterinnen“ aus Polen und der Sowjetunion. Den Gesamtzahlen und dem System der NS-Zwangsarbeit entsprechend wurden auch in Radolfzell zivile Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in relativ großer Zahl in den auf „Kriegsproduktion“ umgestellten örtlichen Betrieben eingesetzt und in mehreren Lagern in der Stadt interniert. Insgesamt leisteten während des Krieges im Stadtgebiet und in den umliegenden Dörfern rund 800 Frauen und Männer aus Polen, der Sowjetunion, Italien, Frankreich, Belgien, Böhmen-Mähren und den Niederlanden Zwangsarbeit. Darunter befanden sich 180 Polen, die in der Landwirtschaft arbeiteten und bereits am 1. Mai 1940 nach Radolfzell verschleppt und auf die Dörfer verteilt worden waren.2

In den großen Radolfzeller Industriebetrieben und bei der Reichsbahn (Bahnhof Radolfzell) waren insgesamt 533 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter „beschäftigt“, darunter viele Kriegsgefangene.

Luftbild Radolfzell   Allweiler Areal   Haselbrunnstraße   Mezgerwaid 1   Um 1933  

Lufbild mit dem Allweiler-Werksgelände und der Schiesser-Villa an der damaligen Adolf-Hitler-Straße, um 1934. Urheber unbekannt. Fotoarchiv Markus Wolter

Radolfzell   Bahnhofsareal Um 1935  

Das Bahnhofsareal mit den Güterhallen (links), Scheffelhof, dahinter das "Haus der Partei" (Alte Forstei), Sitz der NSDAP-Ortsgruppenleitung. Zeitgenössisches Luftbild (Ausschnitt), um 1935. Fotoarchiv Markus Wolter.

 

Schiesser   Briefkopf 1938   Vorstandsvors. Walter Schellenberg  
Briefkopf der J. Schiesser AG 1938: "Vorstand: Walter Schellenberg". Archiv Markus Wolter

Mit Vorstand Walter Schellenberg (1910-1992) als Nachfolger von Jean Schiesser (1871–1951) lag die Unternehmensführung der J. Schiesser AG 1936 erstmals in den Händen eines Mannes, der nicht zur Schiesser-Familie gehörte. Obwohl der Schweizer Firmenleiter "kein besonders offensiver Träger der nationalsozialistischen Ideologie" gewesen sein soll, hat die Radolfzeller Trikotagenfabrik unter seiner Führung eine "besonders große Anpassungsbereitschaft" im Nationalsozialismus demonstriert und sich offensiv darum bemüht, bei der Vergabe von Produktionsaufträgen für Heer und Marine in besonderer Weise berücksichtigt zu werden.3  Im „betrieblichen Leistungskampf“ 1939/40 wurde die Schiesser AG als einer von bis dahin zehn Betrieben im Gau Baden den von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) verliehenen Titel eines „Nationalsozialistischen Musterbetriebs“ zuerkannt. Der 1936 von der DAF erstmals ausgeschriebene Wettbewerb zeichnete Betriebe mit ausdrücklich „nationalsozialistischer Gesinnung“ aus, deren „zielbewusste Aufbauarbeit“ dabei „vom nationalsozialistischen Gemeinschafts- und Leistungswillen“ getragen sein musste.4 Am DAF-„Leistungskampf“ des Jahres 1939/40 beteiligten sich im Gau Baden 14776 Betriebe: fünf wurden dabei als „Musterbetriebe“ bestätigt, drei weitere, darunter die Schiesser AG und die Singener Maggi Gesellschaft mbH, erstmalig ernannt. Von einem „NS-Musterbetrieb“ wurde im ersten Kriegsjahr außerdem verlangt, ein „Bollwerk nationalsozialistischer Widerstandskraft“ zu sein, „um den Rücken unseres Frontheeres (zu) stärken“, so DAF-Obmann Roth bei Überreichung der „Goldenen Fahne der DAF“ an die Schiesser AG am 1. Mai 1940 in Karlsruhe.5 Im selben Jahr gründete die Schiesser AG mit den Trikotfabriken J. Schiesser G.m.b.H.  im elsässischen Saint-Louis ("St. Ludwig") bei Basel einen prosperierenden Filialbetrieb im besetzten Frankreich. Mit diesem beteiligte sich Schiesser bei der propagandistischen Ausstellung "Deutsche Wirtschaftskraft - Aufbau am Oberrhein vom 29. August bis 21. September 1941 in Straßburg - Motto: "Schiesser hilft mit beim Aufbau der Wirtschaft am Oberrhein" - und präsentierte dort die "Artikel, die für die künftige Fabrikation vorgesehen sind."6  

AK Deutsche Wirtschaftskraft

AK Ausstellung Deutsche Wirtschaftskraft   Aufbau Am Oberrhein 1941   Schiesser  

Propaganda-Postkarte zur Austellung "Deutsche Wirtschaftskraft - Aufbau am Oberrhein" 1941 - unter Beteiligung der Trikotfabriken J. Schiesser G.m.b.H.  "St. Ludwig" (=Saint-Louis). Sammlung Markus Wolter

1943 zeichnete die DAF die Radolfzeller Pumpenfabrik Gotthard Allweiler AG als „Kriegsmusterbetrieb“ aus, der bereits 1935 erste Rüstungsaufträge für das Reichsluftfahrtministerium bekommen hatte und „höchste Rüstungsleistung und Produktivität“ vorweisen konnte. Die als „kriegswichtiger Betrieb“ geltende Pumpenfabrik „beschäftigte“ 1942 mindestens 220 „Ostarbeiter“ aus Polen und der Sowjetunion. Neben den genannten „nationalsozialistischen Musterbetrieben“ waren in den Radolfwerken 25, im Milchwerk 25, in der Obstbaugenossenschaft 6 und bei der Reichsbahn 217 zivile ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene beschäftigt.7

Untergebracht waren sie in zwei größeren Barackenlagern und mehreren, als Sammelunterkünften dienenden Gebäuden, darunter auch Gaststätten. Die aufgrund der nationalsozialistischen Rassenideologie am schlechtesten gestellte und behandelte Gruppe, die kriegsgefangenen russischen Zwangsarbeiter, hausten in stacheldrahtumzäunten, streng bewachten Holzbaracken („Russenlager“) neben den Gleisanlagen unterhalb der Mooser Brücke unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne hinreichende Versorgung. Für die zivilen „Ostarbeiter“ der Gotthard-Allweiler AG gab es ein „Allweiler-Lager“ bezeichnetes, zweites Lager, dessen flache Holzbaracken sich zweireihig an der Ratoldusstraße zwischen Schwert- und Zangererstraße hinzogen.8

Die verschiedenen Unterkünfte und Einsatzbereiche korrelierten mit uneinheitlichen Lebensbedingungen und Restriktionen. Für alle Internierten aus Polen und der Sowjetunion obligatorisch waren ein striktes Kontaktverbot zur einheimischen Bevölkerung und Ausgangssperren, um „Spionage“ oder die Möglichkeit sexueller Beziehungen („Rassenschande“) von vornherein zu unterbinden. Auf der uniformen Arbeitskleidung waren Stoffabzeichen („P“ oder „OST“) anzubringen, um die Überwachung der „Ostarbeiter“ und deren täglichen Diskriminierungen durchsetzbar zu machen. Die generell harten Arbeitsbedingungen für die Zwangsarbeiter in den Industriebetrieben sorgten in Verbindung mit einer schlechten Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung zu erheblichen krankheitsbedingten Ausfällen, insbesondere unter den „Ostarbeitern“. Im „Russenlager“ kam es nach Aussage eines Zeitzeugen wiederholt zu schweren körperlichen Misshandlungen russischer Kriegsgefangener durch einen Radolfzeller Ordnungspolizisten. Schwerkranke und Arbeitsunfähige wurden bis 1942 in ihre Heimat abgeschoben, später in größeren Sammellagern zusammengelegt. Für die Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft des Umlands sollen die Existenzbedingungen durch eine bessere Verpflegungslage und Unterbringungsverhältnisse vergleichsweise erträglicher gewesen sein als in den Industriebetrieben. Zwischen 1943 und 1945 kam es unter den „ausländischen Zivilarbeitern“ zu mehreren Todesfällen. Eine genauere Analyse des Archivmaterials hinsichtlich seiner Vollständigkeit und zur Frage der jeweiligen Todesursachen steht noch aus.

Recherche und Text: © Markus Wolter, 2016-2021.

Zivile Zwangsarbeiter/innen in den Radolfzeller Betrieben und in der Reichsbahn

  • Schiesser AG : 39 Frauen9
  • Gotthard Allweiler AG: 22010
  • Radolfwerke: 25
  • Milchwerk: 26
  • Säge- und Hobelwerk Carl Stier: 2011
  • Obstbaugenossenschaft: 6
  • Reichsbahn: 217

Unterkunft in Barackenlagern

Die aus der Sowjetunion nach Radolfzell verschleppten Kriegsgefangenen bzw. männlichen Zwangsarbeiter waren nach 1941 in stacheldrahtumzäunten und bewachten Holzbaracken („Russenlager“) neben den Gleisanlagen unterhalb bzw. östlich der Mooser Brücke untergebracht .

Russenlager Unerhalb Der Mooser Brücke   Radolfzell   Überreste Auf Einem Luftbild Um 1955  

Areal und Überreste des "Russenlagers" in einem Luftbild um 1955. Archiv Markus Wolter.

Ferner gab es ein „Allweiler-Lager“ bezeichnetes Lager für Zwangsarbeiter/innen aus Russland und Polen, die bei der Pumpenfabrik Gotthard Allweiler AG eingesetzt wurden. Die langgezogenen Holzbaracken befanden sich rechtsseitig der Ratoldusstraße zwischen Schwert- und Zangererstraße.

Allweiler Lager  
Das „Allweiler-Lager“ auf dem Werksgelände an der Ratoldusstr. (obere, rechte Bildecke). Fotografie vmtl. aus den 50er Jahren. Privatbesitz D. Wieland.

Belegt ist außerdem die vorübergehende Unterbringung von 97 französischen Kriegsgefangenen 1942 in einem Haus am Marktplatz 3, bevor sie in das Allweiler-Lager verlegt wurden, und von 12-15 russischen Kriegsgefangenen, die 1942-44 für das Stadtbauamt arfbeiten mussten, in Räumlichkeiten des Gasthauses „Adler“ in der Seestraße.

Einzelnachweise

1 Vgl.: Fröhlich, Uta / Glaunig, Christine u.a.: Zwangsarbeit im NS-Staat. Ein Überblick. In: Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.): Alltag Zwangsarbeit 1938–1945. Berlin 2013, S. 6–52.
2 Vgl. Engelsing, Tobias: „Wir sind in Deutschland und nicht in Russland“: Eine Alltagsgeschichte der Volksschule in den Jahren 1933 - 1949 am Beispiel der Stadt Radolfzell am Bodensee, Faude, Konstanz 1987. S. 14.
3 Christian Ruch, Myriam Rais-Liechti, Roland Peter: Geschäfte und Zwangsarbeit. Schweizer Industrieunternehmen im «Dritten Reich», Zürich 2001, S. 205.
4 So DAF-Gauobmann Reinhold Roth in: „Der Führer“ (NSDAP-Gauzeitung in Baden), 2.6.1939.
5 Vgl. hierzu: „Freiburger Zeitung“, 1.5.1940.
6 Vgl.: "Führer durch die Ausstellung "Deutsche Wirtschaftskraft - Aufbau am Oberrhein" - Vom 29. August bis 21. September 1941. Schirmherr Robert Wagner, Gauleiter und Reichstatthalter", Berlin, Verlag für Volkswirtschaftliche Aufklärung 1941.
7 Vgl. Hildegard Bibby (Hrsg.): „Das ist mir in Erinnerung geblieben“ - ZeitzeugInnen in Radolfzell 1930-1950. Konstanz 2015, S. 121 ff.; zu Schiesser vgl.: Ruch, Christian / Rais-Liechti, Myriam / Peter Roland: Geschäfte und Zwangsarbeit. Schweizer Industrieunternehmen im „Dritten Reich“. Zürich 2001. Vgl. ferner StAR IX.353 (Ausländerstatistik, Anwesenheitslisten 1944), 354 (Listen der Ausländer, Gefangenen, Deportierten und Arbeiter, getrennt nach Staatsangehörigkeit, 1944–1946).
8 StAR, Bezirksamt Radolfzell XIX.
9 Vgl.: Christian Ruch, Myriam Rais-Liechti, Roland Peter: Geschäfte und Zwangsarbeit. Schweizer Industrieunternehmen im «Dritten Reich», Zürich 2001.
10 Die Allweiler AG beteiligte sich im Jahr 2000 an dem Fonds zur Entschädigung von Zwangsarbeit der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
11 Laut Überlieferung Familie Anton Knaus (geb. 1884), bislang durch Archivmaterial nicht belegt.