Die Arbeiten am Großkaliber-Schießstand der Unterführerschule wurden ab 1941 mit Hilfe von KZ-Häftlingen aus Dachau fertig gestellt. Eine erste Verlegung von etwa 120 Männern nach Radolfzell fand im Mai 1941 statt; rund ein Jahr später weist eine überlieferte Bestandsstärkeliste 113 Häfltinge aus. Anfang 1942 war es zu mehreren Nachverlegungen gekommen; nach Beendigung der Schießstandarbeiten 1942 erfolgten größere Rückverlegungen. Die letzten 19 KZ-Häftlinge wurden laut Transportliste im Januar 1945 ins KZ Dachau transportiert. Insgesamt konnten bislang 119 Häftlinge namentlich ermittelt werden, die das Außenkommando Radolfzell zwischen 1941 und 1945 durchliefen.1
Während der Jahre im Außenlager Radolfzell wurden die Häftlinge gemäß der Dachauer Lagerordnung von Dachauer Wachmannschaften bewacht und bestraft. In der Kaserne übernahmen Soldaten der Unterführerschule die Bewachung. Die KZ-Insassen mussten sowohl körperlich anstrengende Erdarbeiten bei der SS-Schießanlage verrichten als auch verschiedene Arbeiten in der Kaserne und beim Herzenbad. Radolfzeller Firmen konnten KZ-Häftlinge zur Arbeitsleistung anfordern.2
Etwa 15 KZ-Häftlinge waren 1943/44 nachweislich beim Bau eines unterirdischen Kleinkaliber-Schießstandes bzw. Erdbunkers östlich des Wirtschaftsgebäudes eingesetzt und mussten hierfür die Ausschachtungsarbeiten ausführen.3
"Der Wachdienst bei den Häftlingen ist sinngemäß dem der Konzentrationslager durchzuführen." Abschrift aus USR-Schulbefehl Nr. 22 v. 26. März 1943. Gez. SS-Obersturmführer und Kompanieführer (Arthur) Burzlaff. BArch, MA Freiburg.
Die Unterbringung im Pferdestall der Kaserne war laut Zeugenaussage des ehemaligen Häftlings Josef Dreßen „nicht besser als im Hauptlager Dachau, sondern eher schlechter. Die Verpflegung war auch nicht besser als in Dachau“. Fotografie: Einer von zwei Pferdeställen der SS-Kaserne. In den ehemaligen Pferdeboxen wurden 1941 eiserne Bettgestelle für die KZ-Häftlinge installiert. Zeitgenössische Fotografie eines SS-Angehörigen, um 1938. Urheber unbekannt. Fotoarchiv Markus Wolter
Der Tagesablauf sah gemäß der Lagerordnung so aus: 6 Uhr wecken, 6:15 Uhr Appell, 6:30 Uhr Marsch zum Schießstand, Arbeit bis 12 Uhr, dann eine halbe Stunde Pause, und weiterarbeiten bis 17:30 Uhr. Danach ging es zurück in die Kaserne.
Häftlingstötungen
Im KZ-Außenkommando Radolfzell kam es 1941-1943 zu mehreren Tötungen von KZ-Häftlingen4 , von denen namentlich zwei durch archivalische Dokumente aus Arolsen, Freiburg, Dachau und Radolfzell nachzuweisen sind; im Jargon der Täter wurden die KZ-Häftlinge „auf der Flucht erschossen“ bzw. kamen bei einem „Unfall“ ums Leben:
Jacob Dörr
Jacob Dörr (geb. 1916) war erst am 25. April 1941 von seiner Geburtsstadt Frankfurt in das KZ Dachau verschleppt worden und wurde dort mit der Häftlingsnummer 24562 als „Asozialer“, d.h. „AZR“-Häftling von der Lagerverwaltung registriert. Im Außenlager Radolfzell galt er allerdings als „politischer Vorbeugungshäftling“. Er wurde von einem SS-Wachposten erschossen, nachdem seine Mütze hinter die Postenkette geworfen worden war und er den Befehl erhielt, die Mütze wieder zu holen. Seine Leiche wurde noch am Tag der Ermordung am 11. November 1941 im Krematorium Konstanz eingeäschert.
KZ-Bürokratie: Der Lagerkommandant des KZ Dachau, SS-Sturmbannführer Alexander Piorkowski wandte sich am 17. November 1941 in einem Eilschreiben an das Radolfzeller Standesamt; Betr: „Tod des politischen Vorbeugungshäftlings Jakob Dörr. Das Standesamt wird gebeten die Sterburkunde anzufertigen, 1 Kopie an das Krematorium in Konstanz und 4 Exemplare an die Lagerverwaltung in Dachau zu schicken. Das Standesamt wird von Piorkowski ausdrücklich darauf hingewissen, dass es sich bei Jakob Dörr nicht um einen Wehrmachts- oder SS-Angehörigen handelt(e), „sondern um einen Gefangenen des Konzentrationslagers Dachau.“ Stadtarchiv Radolfzell.
Mutmaßlicher Täter: (Ludwig) Schmidt (phon.), (geb. vmtl. in Mönchengladbach, gestorben 1976 in Mönchengladbach), SS-Rottenführer oder SS-Unterscharführer. Laut Aussage des überlebenden Häflings Josef Drehsen war Ludwig Schmidt „eine Art Stellvertreter“ von Kommandoführer Josef Seuß (BArch B 162/16384, Bl. 165 f.). Nach Aussage des überlebenden Häftlings Alfons Krzebietke habe ein SS-Unterscharführer oder SS-Rottenführer „mit Namen Schmidt (phon.)“ einen Häftling auf dem Schießplatzgelände erschossen. Vor dem Kriminalkommissariat München sagte Alfons Krzebietke am 24. März 1969 wie folgt aus: „Während meines Aufenthaltes in Radolfzell (Mai 1941-Herbst 1942) habe ich nur eine Häftlingstötung miterlebt. Anfangs 1942 (!), während der Arbeiten am Schießstand, sah ich, wie der SS-Unterführer, er kann auch SS-Rottenführer gewesen sein, mit Namen Schmidt (phon.), einem mir namentlich nicht bekannten Häftling, der an der Lore arbeitete, die Mütze vom Kopf riss und diese außerhalb der Postenkette warf. Als der Häftling dann auf seinem Befehl die Mütze holen wollte und sich außerhalb der Postenkette begab, wurde er von Schmidt mit dem Karabiner erschossen. Nähere Einzelheiten von Schmidt sind mir nicht erinnerlich; ich würde ihn aber auf einnem Lichtbild sofort wieder erkennen.“ (BArch B 162/16384, Bl. 72) Möglicherweise handelte es sich bei dem erschossenen Häftling um Jacob Dörr; dieser allerdings wurde nachweislich bereits am 11. November 1941 auf dem Schießplatzgelände auf die von Krzebietke geschilderte Art erschossen. Im Rahmen der 1978 eingestellten Ermittlungen konnte der SS-Angehörige Ludwig Schmidt nicht (mehr) ausfindig gemacht werden.
Fritz Klose
Fritz Klose (geb. 16.7.1904) aus Rehlau, Oberschlesien, seit 21.09.1940 im KZ Sachsenhausen in „Vorbeugehaft“ und in der Strafkompanie („SK“)- Häftlingskategorie: „BV/Sittl“ (=„Berufsverbrecher/ Sittlichkeitsverbrecher“5 - und vmtl. wegen TBC-Erkrankung mehrmals im Krankenbau, war am 21./22. Oktober 1941 von Sachsenhausen nach Dachau überstellt worden und kam dort in den TBC-Block.
Die Schreibstubenkarte von Fritz Klose, KZ Dachau, mit dem Vermerk seiner Überstellung aus Sachsenhausen am 22. Oktober 1941 und dem Datum der Todesfeststellung, 5. August 1943, im „Außenkommando Radolfzell“. ITS Bad Arolsen.
Zwischen 22. Oktober 1941 und 19. Mai 1942 ins Außenkommando Radolfzell verlegt, wurde Klose, den die Dachauer Bestandstärkeliste vom Mai 1942 als „PSV“-Häftling (= „polizeiliche Sicherungsverwahrung“) führt, am 3. August 1943 mutmaßlich bei einem Außeneinsatz in Böhringen und/oder „auf der Flucht“ von einer SS-Wache umgebracht. Seine Leiche wurde nach Angaben des SS-Hauptscharführers Heinz Wendt am 5. August 1943 im Böhringer See gefunden, was Wendt am selben Tag beim Gendarmerie-Posten Radolfzell zur Meldung brachte. Nach Angaben des ebenfalls vorstelligen SS-Unterscharführers Julius Ueltzhöffer (1892-1974)6 - als Kommandoführer für die „Betreuung“ (sic!) der KZ-Häftlinge in Radolfzell zuständig - sei Klose in einer Gruppe von insgesamt 24 Häftlingen am 3. August 1943, 21. Uhr, „zum Baden in den Böhringer See geführt“ worden. „Nachdem das Baden beendet war“ habe Ueltzhöffer beim „Feststellen der Häftlinge“ die Abwesenheit Kloses bemerkt. Unmittelbar einsetzende Suchmaßnahmen von „im Tauchen geübte(n) Häftlinge(n)“ (sic!) hätten wegen der Dunkelheit ergebnislos abgebrochen werden müssen. Erst anderthalb Tage später sei die Leiche Kloses von Ueltzhöffer im abgetrennten Nichtschwimmerbereich des Sees treibend entdeckt und von Wendt geborgen worden. Die Leiche sei in die USR gebracht und dort „eingesargt“ worden. SS-Stabsarzt “Dr. Fischel“7 führte als SS-Truppenarzt der USR am 5. August 1943 eine von ihm als „äußere Besichtigung“ bezeichnete Leichenschau durch; nach Fischels Angaben: „die Leiche eines großen, kräftigen Mannes in gutem Ernährungszustand mit Badehose bekleidet“ (sic!), wenngleich Fischel dann doch auch die „kahlgeschorene Kopfhaut“ erwähnenswert findet. An der ansonsten unauffälligen Wasserleiche will ihm noch aufgefallen sein, dass Augenumgebung und linke Stirn mit „frischem rotem Blut verschmiert“ gewesen seien und am linken oberen Augenlid eine „3 cm lange Stichwunde“, die er als Verletzung duch einen Bootshaken deutet, der bei der Bergung der Leiche verwendet worden sein soll. Als Todesursache wird von Dr. Fischel, der keine weiteren „Anzeichen äußerer Gewalt“ an der Leiche erkennen kann, „Ertrinken“ genannt: „Feststellung des Todes durch ärztliche Leichenschau am 5.3.1943 vormittags, 11.30 Uhr. / gez. Dr. Fischel“8
Die Leiche Kloses wurde von der für den Fall zuständigen Oberstaatsanwaltschaft Konstanz am 6. August 1943 zur Kremation in Konstanz freigegeben; ob und wo die Asche begraben wurde, ist nicht bekannt. Am selben Tag stellte der Oberstaatsanwalt am Landgericht Konstanz, Dr. Walter Melcher, das „Verfahren“ ein; seine lapidare Begründung: „Es liegt kein Verschulden Dritter vor.“9
In den Dachauer Lagerdokumenten (Totenbuch und Buch der „Veränderungsmeldungen“) ist als verschleiernde Todesursache „Unfall“ angegeben.10
Auf der Schreibstubenkarte Kloses findet sich neben einem roten Kreuz lediglich der knappe, ebenfalls rote Vermerk des Dachauer Häftlingsschreibers: „am 5. August 1943 | im Ako: Radolfzell.“
Die genauen Umstände des gewaltsamen Todes von Fritz Klose im Dachauer KZ-Außenkommando Radolfzell Anfang August 1943 sind bis heute ungeklärt und werden, wie zu befürchten ist, nicht mehr aufgeklärt werden können.
Zwei weitere Häftlingstötungen
Außerdem hat es nach Aussagen überlebender Häftlinge (Vorermittlungen der „Zentralen Stelle“ Ludwigsburg) weitere Häftlingstötungen gegeben.
Lt. Zeugenaussage des ehemaligen Häftlings Josef Drehsen, 8.12.1976, vor dem Amtsgericht Mönchengladbach, AS 23-31, erschoss der SS-Rottenfüher und spätere SS-Unterscharführer Jakob Stock kurze Zeit vor Rücküberstellung Drehsens nach Dachau (26.8.1942) zwei Häftlinge bei der Arbeit auf dem Schießplatzgelände. „Ziemlich gegen Ende meines Aufenthalts in Radolfzell war ich Zeuge, wie von einem Wachposten zwei Häftlinge erschossen worden sind. Die beiden Häftlinge waren dabei, eine Böschung oben einzuebnen. Ich war mit anderen Häftlingen unterhalb der Böschung mit Arbeiten beschäftigt. Plötzlich hörten wir zwei Schüsse. Die beiden toten Häftlinge lagen noch innerhalb des Arbeitsplatzes oben auf der Böschung. Einer der beiden hieß mit Vornamen Fritz. Den Namen des anderen weiß ich nicht mehr. Der SS-Mann, der die tödlichen Schüsse abgegeben hat, hieß Jakob Stock und stammte aus Sachsen. Er hat hinterher erklärt, daß die beiden Häftlinge flüchten wollten. Ich bin ganz sicher, daß dieser SS-Mann Jakob Stock hieß. Der Mann ist später SS-Unterscharführer geworden; zum Zeitpunkt der Schüsse war er meiner Erinnerung nach SS-Oberrottenführer (sic!). Sein Ärmelabzeichen bestand aus zwei Winkeln.“ (vgl. BArch B 162/16384, Bl. 164 verso). Weder der Täter (Jakob Stock) noch die beiden von ihm erschossenen Häftlinge konnten im Rahmen der 1978 eingestellten Ludwigsburger Ermittlungen eindeutig identifiziert bzw. verifiziert werden.
Drei tschechische Häftlinge
Nach Erinnerung des ehemaligen KZ-Häftlings Leonhard Oesterle, der zwischen Mai 1941 und November 1943 im Außenkommando Radolfzell war, versuchten an einem Tag drei tschechische Häftlinge gleichzeitig aus dem Außenkommando Radolfzell zu fliehen, wurden aber wieder ergriffen; einer sei tot aufgefunden worden und mindestens einer der beiden anderen auf dem Kasernenareal erschossen worden. Eine nähere zeitliche Feststellung bzw. namentliche Identifizierung der drei Tschechen war bislang nicht möglich. Am 15./16.11.1943 gelang Leonhard Oesterle (1915-2009) selbst dann zusammen mit Oldrich Sedláček (1919-1949) die Flucht über den Bodensee in die Schweiz.11
Leonhard Oesterle und Oldrich Sedláček nach ihrer Flucht 1943. Fremdenpoliz. Dossiers, Schweizerisches Bundesarchiv, Bern.12
Lagersystem der Nazis nicht überlebt
Mindestens 12 der ehemaligen ca. 119 Radolfzeller Häftlinge überlebten das Lagersystem der Nazis nicht bzw. starben kurz nach der Entlassung oder Befreiung an dessen Folgen. Auch Oldrich Sedlácek, dem 1943 zusammen mit Leonhard Oesterle die Flucht in die Schweiz gelang, starb 1949 an den Folgen der KZ-Haft.13
Viele der Radolfzeller KZ-Insassen hatten bereits Konzentrationslager wie Neuengamme, Sachsenhausen, Mauthausen, Buchenwald oder Flossenbürg durchlaufen, bevor sie nach Dachau und dann nach Radolfzell kamen. Nachdem ihre Arbeitskraft in Radolfzell nicht mehr benötigt wurde, wurden sie zunächst in das Stammlager Dachau, von dort aber weiter in andere Dachauer Außenlager oder KZ's wie Sachsenhausen, Mauthausen, Buchenwald, Natzweiler oder Flossenbürg verlegt. Zwei ehemalige Radolfzeller Häftlinge kamen nach Auschwitz. 25 Häftlinge wurden zu Kriegsende von den Alliierten aus verschiedenen Lagern befreit, 20 weitere waren vorher schon entlassen worden.14
Die laufenden Recherchen werden vermutlich noch weitere Todesfälle offenlegen. In vielen Fällen wird jedoch offen bleiben müssen, ob Häftlinge die Zeit des Nationalsozialismus und das Lagersystem überlebten oder nicht.
Einzelnachweise