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[Ein-/Ausblenden]Ansiedlung schon im Mittelalter
Bereits im Mittelalter gab es eine jüdische Ansiedlung in Radolfzell. Sie fiel ebenso wie die anderen jüdischen Ansiedlungen und Gemeinden der Bodenseeregion1 den antijüdischen Pogromen in den Pestjahren 1348/49 zum Opfer.
http://www.alemannia-judaica.de/radolfzell_juedgeschichte.htm
Das 19. und 20. Jahrhundert
Die wenigen jüdischen Einwohner Radolfzells gehörten im 19. und 20. Jahrhundert zur jüdischen Gemeinde von Konstanz (wie auch diejenigen von Meersburg, Singen und Überlingen). Die höchste Zahl jüdischer Einwohner in Radolfzell gab es nach den Volkszählungsergebnissen im 19./20. Jahrhundert im Jahr 1880 mit 14 Personen.
http://www.alemannia-judaica.de/radolfzell_juedgeschichte.htm
1932 hatte Radolfzell noch sechs jüdische Einwohner. 2
Das im August 1938 erschienene „Adreßbuch der Stadt Radolfzell am Bodensee“ gab - nach Stand der Volkszählung vom 16. Juli 1933 - folgende Übersicht über die Religionszugehörigkeit der 7467 Radolfzeller Einwohner/innen, deren aktualisierte Zahl 1938 mit „rund 9000“ angegeben wird:
Religionszugehörigkeit | Einwohner*innen |
Römisch-katholisch | 6286 |
Evangelisch | 1028 |
Altkatholisch | 17 |
Israeliten | 2 |
Sonstige | 134 |
Quelle: 3
Was die beiden „Israeliten“ anbelangt, war das Adressbuch von 1938 nicht mehr auf dem neuesten Stand, denn die SS-Garnisonsstadt Radolfzell konnte - im antisemitischen Jargon des Nationalsozialismus – bereits ab Ende 1936 als „judenfrei“ gelten. 4 Die beiden im Adressbuch noch geführten jüdischen Mitbürger waren Lotte und Josef Bleicher. Sie hatten Radolfzell bereits im Dezember 1936 verlassen und waren 1937 über Antwerpen nach Haifa, Palästina, emigriert.
In der SS-Garnisonsstadt blieb indessen der rassenideologisch fundamentierte Antisemitismus, dem die Bleichers 1936 nur durch Flucht entkommen konnten, virulent. Noch im April 1945 soll ein Radolfzeller Jungvolkführer mit roter Ölfarbe auf den Sandstein des Münsterturms den Satz "Adolf Hitler die Treue, Juda den Hass" gepinselt haben; ein Satz, "der lange nicht wegzukratzen war".5
Lotte und Josef Bleicher - "Arisierung" und Flucht
Josef Bleicher (16.12.1887, Swilcza/Rzeszow - 7.3.1972, Haifa, und Lotte Bleicher, geb. Goldberg (23.2.1899, Strzyzów - 14.11.1972, Haifa).
Das aus Galizien stammende jüdische Ehepaar Lotte und Josef Bleicher lebte ab 25.März 1924 in der Schützenstr. 15, 1925 in der Friedrichstraße 4 und ab 9.6.1933 schließlich in der Höllstr. 1, Radolfzell.(Karte) Josef Bleicher (1887-1972), Sohn von Frieda Bleicher, geb. Silbermann und Hermann Bleicher, war seit dem 11. Februar 1910 bis zum 15.6.1915 in der Stadt gemeldet und nahm am Ersten Weltkrieg teil. 1918 kam er vom Kriegsdienst zurück und bezog zum 18.11.1918 eine Wohnung am Luisenplatz 7. Wann und wo er seine Frau Lotte Goldberg (1899-1972) heiratete bzw. wann diese nach Radolfzell kam, ist bislang nicht bekannt.
Bereits im Frühjahr 1936 sahen sich die Bleichers in Folge von Boykottmaßnahmen 1933 und der damit verbundenen Umsatzverluste gezwungen, ihr seit 1924 bestehendes Textil- und Schuhwarengeschäft in der Schützenstraße, später Adolf-Hitler-Str. 1 (neben dem Hotel „Sonne-Post“), aufzulösen bzw. die restlichen Lagerbestände zu verkaufen. Das so "arisierte" Textilgeschäft ging mit Kaufvertrag vom 1. Mai 1936 am 1. September 1936 an die Firma “(Carl) Renk & (Franz) Esser“ über.6 Die Firma selbst („Herren- und Damenkonfektionshaus“) war im nationalsozialistischen Deutschland faktisch wertlos geworden und wurde nicht übernommen. Hintergrund: Der Begriff „Konfektionshaus“ galt als jüdisch und wurde von den Nationalsozialisten als Beispiel für die angebliche „Verjudung“ der Textil- und Einzelhandelsbranche ab 1936 verboten. Fortan firmierte das Ladengeschäft „Renk & Esser“ als „Deutsches Bekleidungshaus“.
Unter den in Radolfzell offenkundig gewordenen Repressalien und der sich abzeichnenden existenziellen Bedrohung lösten die Bleichers auch ihre Privatwohnung auf, meldeten sich am 30.11.1936 ab und wohnten noch für vier Monate in einer möblierten Zweizimmerwohnung bei Frau Anna Simon, Konstanz, Saarlandstr. 4, von wo sie im März 1937 zunächst ins belgische Antwerpen gingen - dorthin waren Eltern und Geschwister Lotte Bleichers emigriert - und Mitte April 1937 schließlich über Triest nach Haifa, Palästina, emigrierten.
Die durch ihre Emigration nahezu mittellos gewordenen Bleichers lebten von der Unterstützung durch die Angehörigen Lotte Bleichers zunächst in Antwerpen, später in Haifa, wo sie erst 1950 mehr schlecht als recht durch Gründung einer Wäscherei ihr finanzielles Auskommen zu finden suchten.
Das Wohnhaus, Höllstr. 1. Die letzte Radolfzeller Wohnung der Bleichers befand sich im Haus der Verlagsdruckerei Joseph Huggle & Sohn / „Deutsche Bodenseezeitung“ (bis 1936 „Freie Stimme“) in der dritten Etage. Fotografie Burkhard Dieter Liedl, frühe 60er Jahre. Liedl-Archiv, Radolfzell.
Das „Damen- und Herrenkonfektionsgeschäft“ Bleicher, Schützenstr. 1, neben dem damaligen Hotel „Sonne-Post“. Zeitgenössische Bildkarte, um 1930.7
Das Konfektionshaus Lotte und Josef Bleicher. Fotografie: Stadtarchiv Radolfzell.
Boykottmaßnahmen gegen den „Konfektionsjuden“ und als „jüdischen Betrüger“ diffamierten Bleicher: Am 1. April 1933 postieren zwei SA-Angehörige aus Radolfzell mit antisemitischem Hetzplakat am Eingang:
Jeder Deutsche, der bei Juden kauft,
ist ein Verräter am eigenen Volk.
Denkt an Sklarek, Barmat, Kutisker.8
„Juden als Großbetrüger“: Sklarek, Barmat, Kutisker. HJ-„Ausbildungs“-Material, um 1935. Fotografie: United States Holocaust Memorial Museum
„Neues deutsches Bekleidungshaus“
Nach der „Arisierung“: Das Damen- und Herrenbekleidungsgeschäft Renk & Esser am Tag des Einmarsches der III./SS-VT „Germania“, 31. Juli 1937.9
Das „neue deutsche Bekleidungshaus“. Erste Zeitungsanzeige in der „Bodensee-Rundschau“ („Nationalsozialistisches Kampfblatt für das deutsche Bodenseegebiet“), 4. September 1936.
Stimmen:
“Wo heute das Bekleidungsgeschäft Renk & Esser drin ist, da war ein Jud drin, der Bleicher. War aber (sic!) ein netter Kerle. Ich kann mich noch erinnern, daß vor dem Geschäft immer zwei SA-Männer davorgestanden sind mit Fotoapparaten. Wer rein ist zu dem Bleicher, der wurde fotografiert. Die Bleichers sind dann nachher weg.“10
“Ich habe für das frühere Geschäft des Antragstellers (Josef Bleicher) in Radolfzell gearbeitet. Ich muss bestätigen, dass im Rahmen der Judenhetze, die damals von der Partei der NSDAP inszeniert wurde, der Antragsteller gezwungen wurde, sein Geschäft aufzugeben und einen Totalausverkauf im Sommer 1936 herbeizuführen. Das Geschäft wurde zum Teil an die heutige Firma Renk & Esser verkauft.“ (Karl Jäger, Radolfzell, in einer Erklärung vor dem Amtsgericht Radolfzell, 17.11.1958)11
“Der Totalausverkauf wurde damals durchgeführt, weil der Antragssteller mit Rücksicht auf seine jüdische Abstammung hierzu gezwungen wurde.“ (Anna Harter, Verkäuferin bei Bleicher, später bei Renk & Esser, in einer Erklärung vor dem Amtsgericht Radolfzell, 17.11.1958):12
„Ich gehörte zur Kundschaft des Geschäftes des Antragsstellers und habe meine Textilien und Schuhe im Geschäft des Antragsstellers eingekauft. Der Antragssteller wurde gezwungen, das Geschäft im Rahmen der allgemeinen Judenverfolgung zu verkaufen. Ich weiß und kann aus eigenem Wissen bekunden, dass nur diese Judenverfolgung den Antragssteller gezwungen hat, das Geschäft aufzugeben und einen Totalausverkauf durchzuführen.“ (Hilde Uricher, geb. Stocker, in einer Erklärung vor dem Amtsgericht Radolfzell, 17.11.1958):13
„Mein Schwiegervater Carl Renk, der am 10.3.1958 gestorben ist, und ich haben auf den 1.9.1936 das Textilgeschäft des Antragsstellers übernommen. Da wir keine Fachleute für die Schuhbranche sind, haben wir die Übernahme des Schuhwarengeschäftes des Antragsstellers abgelehnt. Der Antragssteller war infolgedessen gezwungen, einen Totalausverkauf seines Schuhwarengeschäftes durchzuführen. Die Neueröffnung unseres Geschäftes war auf den 1.9.1936 festgesetzt. Es ist mir völlig klar, dass der Antragssteller durch diesen Totalausverkauf finanzielle Verluste und Einbußen erlitten hat und er sein Schuhwarenlager unter dem Einkaufspreis abgeben musste, dies nehme ich an, sonst würde ein Totalausverkauf nie zum Erfolg führen und kein Interesse bei der Kundschaft erlangen. Dies ist eine allgemein kaufmännisch bekannte Tatsache.Auf Frage der Ehefrau des Antragsstellers: Ich weiß nicht, ob ein Teil der Warenbestände des Textilgeschäfts vor der Übernahme durch uns verkauft wurde im Rahmen eines Teilausverkaufs. Ich will es nicht in Abrede stellen, ich kann es aber nicht mehr mit 100%iger Sicherheit sagen. Wir befanden uns in jener Zeit in Freiburg. Erst seit 1.9.1936 befinden wir uns hier.Auf Frage der Ehefrau des Antragsstellers: Einen Preis für die frühere Firma Josef Bleicher wurde von mir und meinem Schwiegervater nicht bezahlt. Diese Firmenbezeichnung war damals im Jahre 1936 wertlos. Es ist mir bekannt, dass die Firma Bleicher früher einen guten Ruf gehabt und als seriöses Geschäft allseits bekannt war. Es ist mir auch bekannt, daß in Fachkreisen vor der Machtübernahme eine bestehende, eingeführte Firma einen gewissen Wert dargestellt hat.“ Franz Esser - Mitinhaber von „Renk & Esser“ 14 in einer Erklärung vor dem Amtsgericht Radolfzell, 17.11.1958)15
“Das Ehepaar Bleicher ist mir persönlich seit dessen Zuzug nach Radolfzell bekannt. Ich habe deren Geschäftsgründung (Konfektionshaus) und die Entwicklung desselben miterlebt und weiß, wie groß das Ansehen war, zu dem sich Geschäft und Inhaber heraufarbeiteten. In manch engerem Personenkreis war auch bekannt, wie sehr Bleicher offene Hand für fremde Not hatte. Die Erregung und innere Empörung war in unserem Städtchen allgemein, als die ersten Maßnahmen gegen Bleicher bekannt wurden, und viele Käufer trotzten dem gegen ihn angewendeten Terror und kauften bei ihm ein, trotz des Parteiphotographen, der vor seiner Kaufhaustreppe sein schmutziges Handwerk ausübte. Als Bleicher im Jahre 1937 noch die Möglichkeit fand, auszuwandern, begleiteten ihn die besten Wünsche eines größten Teiles der Radolfzeller Bevölkerung auf seiner Flucht vor dem sicheren Tod des Henkerregimes.“Carl Diez in seinem Schreiben an das Landesamt für Wiedergutmachung, Freiburg, 15.5.1954. 16
Hintergrund: "freiwillige Arisierung"
Briefkopf des Konfektionshauses Bleicher, 1931. Sammlung Markus Wolter
Die „Arisierung“ jüdischer Betriebe in der Zeit des Nationalsozialismus verlief in zwei Phasen.Die sogenannten „freiwilligen Arisierungen“ vom Januar 1933 bis November 1938 bestanden in äußerlich mehr oder weniger „frei“ ausgehandelten Kauf- und Übernahmeverträgen zwischen einem jüdischen Firmeninhaber als Verkäufer und einem nichtjüdischen, deutschen Käufer, der das Unternehmen fortführte.
Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938 wurde Juden vom 1. Januar 1939 ab der Betrieb von Einzelhandels-, Versandgeschäften oder Bestellkontoren sowie der selbständige Betrieb eines Handwerks grundsätzlich untersagt. Die Veräußerungen erfolgten mit diesem Datum aufgrund staatlicher Verordnungen, mit denen die jüdischen Inhaber zum Verkauf ihres Eigentums unmittelbar gezwungen wurden.
Der Begriff der „Freiwilligkeit“ der Arisierungen bis 1938 suggeriert die Vorstellung eines „gewöhnlichen“, rein kaufmännischen und marktüblichen Vorgangs. Er unterschlägt die durch ihn verdeckte mittelbare Zwangssituation und erweist sich wie die Rede von “(freiwilliger) Auswanderung“ als Euphemismus: „Das Wort „freiwillig“ gehört in Anführungszeichen, weil unter dem Naziregime nicht ein einziger Verkauf jüdischen Eigentums freiwillig im Sinne eines in einer freien Gesellschaft frei ausgehandelten Vertrages erfolgte. Die Juden wurden massiv zum Verkauf genötigt. Je länger sie warteten, desto größer wurde der Druck und desto geringer die Entschädigung.“17
Jüngste Forschungen zum Thema analysieren und bewerten die Einstellung und Motive der „Ariseure“. Die Typologie des Erwerberverhaltens unterscheidet dabei drei Gruppen: wenige „gutwillige Geschäftsleute“ mit ehrlicher Absicht, denen an einer angemessenen Entschädigung des jüdischen Verkäufers gelegen war, ebenso wenige „skrupellose Profiteure“, die über den Rahmen der allgemeinen antijüdischen Maßnahmen hinaus zusätzlich persönlichen Druck auf die jüdischen Vorbesitzer ausübten, und schließlich die Mehrzahl der „stillen Teilhaber“ (Bajohr)18 und „aktiven Opportunisten“ (Fritsche). Sie verstanden sich als „ehrliche Kaufleute“, die eine günstige Gelegenheit erkannten und wickelten die „Arisierungen“ zumindest äußerlich korrekt ab, setzten die jüdischen Verkäufer nicht persönlich unter Druck, profitierten aber gleichwohl von ihrer Notlage.19
"Konfektionsjuden" und die "Adefa - Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e.V. Berlin"
„Adefa“- Gütesiegel: „aus arischer Hand“
Die Maßnahmen der antijüdischen Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten richteten sich besonders gegen die in deren Augen „verjudete“ Textilindustrie, sowohl die Produktions- wie auch die Handelsbetriebe. Die vom Reichsverband der deutschen Bekleidungsindustrie zum Zweck der systematischen „Arisierung“ dieses Wirtschaftszweiges im Mai 1933 gegründete, auf Selbstverpflichtung beruhende „Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e.V. Berlin“ (Adefa) verbot ihren etwa 500 Mitgliedern (Stand 1938) jeglichen Geschäftsverkehr mit jüdischen Produktions- und Handelsbetrieben. Sie gilt als treibende Kraft in der Judenverfolgung der Textilindustrie und als ein aggressiver antisemitischer Kampfverband.20 Die Adefa - Mitglieder warben bereits ab April 1933 mit dem „Gütesiegel“ „aus arischer Hand“ und versuchten, das antijüdische Gesellschaftsklima für eigene ökonomische Interessen auszunutzen. Viele gewöhnliche Kunden kauften unter dem Eindruck des Juden-Boykotts im April 1933 ihre Waren nur noch in besonders ausgewiesenen „Deutschen Geschäften“. Der Begriff „Konfektion“ durfte kein Bestandteil des Firmennamens mehr sein und war seit 1936 verboten.
“Die Erzeugnisse, die mit dem „Zeichen für Ware aus arischer Hand“ gekennzeichnet sind, sind also vom Weber bzw. Wirker über den Bekleidungsfabrikanten bis zum Einzelhandel nur durch arische Hände gegangen, so daß der Verbraucher, der solche Kleidungsstücke kauft, gewiß sein kann, daß der deutschen Facharbeitern und Angestellten damit Brot und Arbeit verschafft, nicht aber wie das früher noch aus Unwissenheit möglich war, sein Geld für den Profit des Konfektionsjuden hergibt. Es ist daher die Pflicht jeden deutschen Mannes und jeder deutschen Frau, die aktiv bei der Entjudung der deutschen Bekleidungswirtschaft mithelfen wollen, bei ihren Einkäufen auf das „Zeichen für Waren aus arischer Hand“ zu achten und vom Einzelhändler nur Erzeugnisse mit diesem Zeichen zu fordern.“ (Das NS-Organ „Arbeit und Wehr“ über das „Adefa-Gütesiegel“, mit dem die Mitglieder die von ihnen hergestellten und vertriebenen Textilwaren werbewirksam versahen.)
Zum Vergleich: Das NSDAP- und "Adefa"-Mitglied August Kratt
“ Der Angeschuldigte (August Kratt) versicherte alles zu tun, um jüdische Lieferanten fern zu halten, jedoch sei eine konsequente Haltung gerade in der Bekleidungsindustrie auch heute noch schwierig, weil sie vor der Machtübernahme nahezu vollkommen in jüdischen Händen lag und das jüdische Element im Textilhandel immer noch stark vertreten ist.“ (Zit. NSDAP-Kreisgericht Konstanz, 30.11.1937; vgl. BArch Berlin, PK A. Kratt)
Dem Kaufmann, NSDAP-Mitglied (1.5.1933) und späteren Bürgermeister August Kratt21 , bis 1936 Branchenkollege der Bleichers, danach von „Renk & Esser“, war 1937 vorgeworfen worden, Stoffwaren von bedrängten und mit Boykottmaßnahmen belegten jüdischen Handelshäusern (Oppenheimer in Bruchsal, Wilhelm und Viktor Levi in Überlingen, Guggenheim in Donaueschingen und Singen) zu Billigpreisen gekauft zu haben, um sie zu Höchstpreisen in Radolfzell zu verkaufen. Die jüdische Herkunft der Ware habe er den Käufern dabei verschwiegen. Wegen dieser Warenankäufe bei Juden – nachweislich eines Ankaufs von 60 Metern roten Tuchs bei Oppenheimer in Bruchsal und Verkauf an die „Narrizella Ratoldi“ zur Anfertigung einer „Traditionsunsuniform“ („Garde-Uniform“) - wurde vom NSDAP-Kreisgericht Konstanz 1937 ein Parteiverfahren gegen Kratt eingeleitet und dessen NSDAP-Mitgliedschaft per einstweiliger Verfügung am 26.10.1937 ausgesetzt. Begründung: „Kratt ist schuldig eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 der Satzung“ der NSDAP.
In der Verhandlung wurde bekannt und bei der Beurteilung des Falls berücksichtigt, dass August Kratt Mitglied der „Adefa“ war und folglich auch gegen deren Richtlinien eklatant verstoßen hatte.
Das Kreisgericht hob die einstweilige Verfügung am 30. November 1937 wieder auf und Kratt wurde nach einer scharfen Rüge als NSDAP-Parteimitglied wieder aufgenommen. Er hatte vor dem Parteigericht seine Schuldeinsicht glaubhaft zum Ausdruck gebracht, ebenso das Versprechen geleistet, dass es bei dieser einmaligen „Verfehlung“ bleiben werde. Als strafmildernd wurde eine Stellungnahme der „Adefa“ gewertet, wonach es angesichts eines nach wie vor „vom jüdischen Element beherrschten Bekleidungssektors“ für die arischen Textilhändler schwierig sei „eine konsequente Haltung“ zu haben.22
Ob auch „Renk & Esser“ Mitglied der „Adefa“ waren, ist bislang nicht bekannt.
Die „Verluste an Einkommen und Vermögen“ - Zur Frage der „Wiedergutmachung“
Lotte und Josef Bleicher wurden 1953 als „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ gemäß § 1 BEG (Bundesentschädigungsgesetz) anerkannt und erwirkten in einem langjährigen Wiedergutmachungsverfahren als „aus Gründen der Rasse“ Verfolgte Anspruch auf „Kapitalentschädigung“ / Rente, da sie, gemäß der Gesetzesvorlage, nachweislich „erheblichen Schaden in beruflichem oder wirtschaftlichem Fortkommen erlitten“ hatten. Frau Lotte Bleicher erwirkte darüber hinaus die Anerkennung, als Opfer nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen „Schaden an Körper und Gesundheit“ erlitten zu haben.23
„Renk & Esser“ waren 1936 bereit gewesen, für das noch vorhandene Textilwarenlager einen Betrag von 40.000,– Reichsmark24 zu zahlen und handelten diese Summe mit Josef Bleicher aus. Die Übernahme bzw. den Ankauf der Schuhwarenbestände lehnten sie ab. Da die Textilwarenbestände tatsächlich einen höheren Wert hatten und um das Lager auf den Wert von RM 40.000 zu reduzieren, mussten die Bleichers neben der Schuhwarenabteilung zuvor auch Teile der Konfektionswaren in den Totalausverkauf geben. Der damit entstandene, zusätzliche „Verschleuderungsverlust“ betrug laut Wiedergutmachungsbehörde RM 10.000,–. Für die Ladeneinrichtung, welche einen Wert von schätzungsweise RM 12.000 hatte, zahlten „Renk & Esser“ einen Betrag von RM 3.200,–. Für die private Wohnungseinrichtung, deren Wert auf RM 2000,– geschätzt wurde, zahlten Essers, die die Wohnung in der Höllstr. 1 als Nachmieter bezogen, RM 865,– Abstand. Für die Firma (Name) „Herren- und Damenkonfektion“ selbst wurde nichts bezahlt. Im Rahmen der Ermittlung der Schadenssumme 1965 wurde er von der Wiedergutmachungsbehörde rückwirkend auf RM 10.000.– geschätzt und zu den Verlustposten des Vermögens addiert.
Wie für alle jüdischen Emigranten nach 1933 bestand auch für die Bleichers bei ihrer „durch die Rasseverfolgung bedingten Auswanderung“ (BEG) keine Möglichkeit, ihr Vermögen in das Emigrationsland zu transferieren; es wurde nach Maßgabe des sogenannten "Reichsfluchtsteuer-Gesetzes" von 1934 als Zwangsabgabe vom NS-Staat nahezu vollständig eingefordert. So gaben sie noch unmittelbar vor ihrer Emigration aus ihrem Verkaufserlös des Warenlagers laut Vertrag von 1937 der jüdischen Firma Georg Beigel in Berlin ein Darlehen von RM 35.000. Von diesem Betrag wurden mit Genehmigung der Reichsbank später jedoch lediglich RM 2000,– nach Palästina transferiert. Da auch Herr Beigel, der noch nach Amerika emigrieren konnte, sein Vermögen in Deutschland durch „Rasseverfolgung“ verlor, kam die Familie Bleicher mit dem restlichen Betrag von RM 33.000 voll in Verlust.
Insgesamt summierten sich die von der Wiedergutmachungsbehörde 1965 amtlich festgesetzten „Verluste an Einkommen und Vermögen“ durch Verfolgung, „Arisierung“ und Flucht auf 266.963 Reichsmark.25
Epilog
„Sehr entspannt“ und „kaufmännisch korrekt abgewickelt“
Herbert Esser, geb. 1939, Sohn von Franz Esser26 und Inhaber von „Renk & Esser“ von 1970 bis zur Geschäftsaufgabe 1994, kritisierte in einem Südkurier-Interview mit Claudia Wagner 2013 über die geplanten Stolpersteine für Lotte und Josef Bleicher die Verwendung des Wortes Flucht für die durch die NS-Verfolgungsmaßnahmen erzwungene Emigration, die er lediglich als „Ausreise“ bezeichnet wissen wollte. Außerdem verwies Esser auf den durchweg höflichen Ton beider Parteien in der überlieferten Vertragskorrespondenz und sprach diesbezüglich von einer „kaufmännisch korrekten Abwicklung“ in „verbindlicher“, „freundschaftlicher“, „sehr entspannter“ Atmosphäre, was für eine „eigentlich fast normale Lebenssituation“ spräche. Esser stellte in Abrede, dass es sich bei der Eigentumsübertragung um einen Verkauf unter Wert gehandelt hat und den Bleichers durch die 'Arisierung' des Ladengeschäfts und der Wohnungseinrichtung Vermögensschaden entstanden ist. Dass das langjährige Wiedergutmachungsverfahren der Bleichers (1953-1965) mit der behördlichen Anerkennung von Entschädigungsansprüchen in Form von staatlichen Einmalzahlungen und Altersrenten endete und das Gericht u.a. einen „erheblichen Schaden“ durch Einkommens-und Vermögensverlust in oben genanntem Umfang als gegeben sah, nahm Esser zunächst nicht zur Kenntnis. Später zweifelte er die amtlichen Berechnungen an; diese seien fehlerhaft und hätten sich auf „nicht ganz realistische“ Angaben von Josef Bleicher gestützt.
„Mir geht es darum, dass meine Familie nicht in eine Ecke der Täter gerückt oder als Familie dargestellt wird, die sich an der Verfolgung der Juden bereichert hat.
Ich möchte klarstellen, dass der Verkauf der Familie Bleicher an meine Familie kaufmännisch korrekt erfolgte, in freundlichem Ton und sehr verbindlich. Bleichers boten an, sich im Schwarzwald bei einem Ausflug zu treffen, was zeigt, dass die Atmosphäre sehr entspannt war.
Damals, zweieinhalb Jahre vor der Reichspogromnacht, konnte man einen Verkauf noch kaufmännisch korrekt abwickeln.
Josef Bleicher kam 1955 noch einmal nach Radolfzell. Er kam mit der Forderung, mit 25 000 DM als stiller Teilhaber in die Firma einzusteigen. Das wollte mein Vater aber nicht, es wäre ja eine Gewinnbeteiligung gewesen. Bleicher konterte darauf mit der Ankündigung, dass er sonst ein Konkurrenzunternehmen in Radolfzell eröffnen würde. Für mich ist das eine Erpressung. Es wurde dann amtlich festgestellt, dass der Verkauf 1936 korrekt abgelaufen war und daraus keine weiteren Ansprüche abgeleitet werden können. (…).“
Die Familie Bleicher musste in dem Sinne nicht fliehen, sondern konnte ausreisen.27
„Der Jude hat gemeint, er könne noch einmal kassieren.“
Liesel Renk, geb. 1904, Tochter des Ariseurs Carl Renk und Tante von Herbert Esser, äußerte sich im Rahmen einer Zeitzeugenbefragung bereits 2002 zu diesem Thema. Die erst 2015 anonymisiert und ohne hinreichende Kommentierung veröffentlichte Transkription ihrer unverhohlen antisemitischen Einlassung sei abschließend zitiert:
„Mein Vater, der in Freiburg Prokurist war und Radolfzell kannte, hörte, dass Bleicher aufhören muss und interessierte sich für das Geschäft. Dann ist die Bestandsaufnahme gemacht worden, da war ihre Mutter dabei. Man stellte den Betrag fest, wie dieser war, weiß ich nicht mehr genau. Bei meinem Vater hat das Geld nicht ganz gereicht und er lieh sich dann von Verwandten aus der Schweiz Geld, damit er dem Juden alles ausbezahlen konnte.
Der hat dann sein Geld also bekommen und ist dann nach Haifa und hat dort einen Waschsalon eröffnet. Nach vier Wochen ist der Jude dann noch mal gekommen und hat gemeint, er könne noch einmal kassieren.
Dann hat mein Vater gesagt: 'Sie haben Ihr Geld vollständig bekommen, das ist ausgeschlossen, dass Sie noch mal etwas kriegen.'
Dann hat sich die Handelskammer damit befasst und hat gesagt: 'Sie haben nichts mehr zu beanspruchen, Sie haben Ihr Geld vollständig bekommen' und dann ist er dann abgezogen.“28
Nach der Befreiung 1945 - "Mess de Garnison", das Hotel 'Sonne-Post' unter der Trikolore. Auf dem ehemaligen Firmenschild der Ariseure Renk & Esser zu lesen: "Mess de Garnison - Officiers": Das requirierte "deutsche Bekleidungshaus" diente vorübergehend als französische Offiziersmesse. Zeitgenössische Ansichtskarte, um 1946. Fotoarchiv Markus Wolter.
Das Gebäude in der Schützenstr. 1 heute: Volksbank Radolfzell, mit dem „Renk & Esser-Saal“ für Vortragsveranstaltungen. Das „alteingesessene Bekleidungshaus“ Renk & Esser war nach der Geschäftsaufgabe 1994 von Herbert Esser an die Volksbank Radolfzell verkauft worden. Fotografie aus dem Jahr 2013.
Stolpersteine für Lotte und Josef Bleicher, Höllstraße 1, Radolfzell, 28. Juni 2014.
Recherchen und Text: © Markus Wolter, Freiburg 2015.
Alice Fleischel - Deportation nach Gurs
Alice Fleischel, geb. Rossin, als Tochter jüdischer Eltern am 04.06.1873 in Hamburg geboren, gestorben am 26.4.1941 im Internierungslager Gurs, Frankreich
Eltern: Julius Rossin und Klara Rossin, geb. Oppenheimer
Staatsangehörigkeit: deutsch
Religion: jüdisch, konvert. 1897 ev.
Familienstand: verheiratet mit dem Berliner Verleger Egon Fleischel, geboren am 12.05.1862 in Hamburg, gestorben am 28.01.1936 in Berlin
Alice Fleischel lebte bis 1939 in Berlin, zuletzt in Wiesbaden, München und Radolfzell und hatte zwei Söhne. Im Gedenkbuch29 finden sich deren Namen: Erich Fleischel (geb. 16.07.1897 Berlin, ermordet nach 04.03.1943 in Majdanek)30 und Günther Rolf Egon Fleischel (geb. 01.06.1903 Berlin, gestorben (Krebserkrankung) 05.09.1943 im Ghetto von Riga).31
Das „Bahnhofhotel Schiff“ auf zeitgenössischen Bildkarten; Eingang Bahnhofplatz 1, um 1940 (links) und Seiteneingang, Seetorstr. 2, um 1950 (rechts). Sammlung Markus Wolter.
Alice Fleischel, die, aus München über Baden-Baden kommend, seit Mitte April 1940 im „Bahnhofhotel Schiff“ am Bahnhofplatz 1 / Ecke Seetorstr. 2 in Radolfzell wohnte, wurde dort am 22. Oktober 1940 von der Gestapo Konstanz im Rahmen der sogenannten "Wagner-Bürckel-Aktion" verhaftet und noch am selben Tag per Zug von Radolfzell ins südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert, wo sie am 26. April 1941 ums Leben kam.32
In ihrer Unterkunft in Radolfzell hatte sie sich zuletzt entschieden, in die Schweiz zu fliehen, um über Italien, wo eine Schwägerin lebte, vermutlich weiter nach Südamerika zu gelangen. Im Stadtarchiv Radolfzell ist ein Schreiben des Polizeireviers Radolfzell – „Aufenthalt von Juden betr.“ - vom 2. Juli 1940 überliefert, dem eine Denunziation aus der Bevölkerung vorangegangen sein muss; dort heißt es, „dass sich seit Mitte April im Hotel Schiff eine Jüdin Frau Alice Fleischel geb. Rossin, geb. 4.6.1873, als Gast befindet. Dieselbe ist ohne festen Wohnsitz und nur auf Fremdenzettel gemeldet“. Hotelier Strudel habe es unterlassen, die vorgeschriebene Anzeige zu erstatten und werde deshalb bestraft. Die ebenfalls im Stadtarchiv überlieferte Meldekarte Alice Fleischels belegt eine am Vortag, dem 1. Juli 1940, vorgenommene (nachträgliche?) Anmeldung von „Alice Sara Fleischel“33 , die sich lt. Eintrag durch eine jüdische Kennkarte („J“) mit der Nummer A 371187 ausweisen konnte, was den mit rotem Farbstift vorgenommenen Eintrag „Jude!“ auf ihrer Meldekarte erklärt. Eingetragen sind ferner: „Jahr und Tag der Anmeldung: 1.7.40; Wohnung: Bahnhofplatz 1, Hotel Schiff. Jahr und Tag der Abmeldung: 22.10.40. Von Gestapo Konstanz abtransportiert“.
Deportationsbahnhof Radolfzell. Ansichtskarte um 1950. Sammlung Markus Wolter.
Am Radolfzeller Bahnhof wurde sie in den aus Konstanz-Petershausen eingefahrenen Sonderzug (4. Klasse) der Deutschen Reichsbahn mit 108 Konstanzer Judinnen und Juden gesetzt. Auch sieben jüdische Einwohner*innen von Wangen waren zuvor in einem Kastenwagen von Radolfzeller SS dorthin gebracht worden und mussten einsteigen. In Singen hielt der Zug erneut und 178 Jüdinnen und Juden aus Gailingen, 17 aus Randegg, zwei aus Hilzingen und eine Frau aus Bohlingen kamen hinzu. An den folgenden Bahnhöfen der Schwarzwaldbahn bis Offenburg wurden weitere Juden in den Zug gezwängt. In Offenburg mussten alle aussteigen und in einen aus Karlsruhe einfahrenden Zug umsteigen, der nach Freiburg fuhr. Dieser war einer von insgesamt sieben Deportationszügen, mit denen 5592 badische Jüdinnen und Juden nach Gurs deportiert wurden. Jüngste Recherchen (2020) konnten erstmals die genaue Deportationsroute dieser Züge von Freiburg aus über die Rheinbrücke in Breisach nach Mulhouse und über die Demarkationslinie bei Chalon-sur-Saône ins unbesetzte Frankreich rekonstruieren.34
Alice Sara Fleischel, geb. Rossin, Jude!, Religion: evg.
Meldekarte von Alice Fleischel, Stadtarchiv Radolfzell
„Hoffentlich bist Du an einen Platz gekommen, wo Du bleiben kannst u. erholst dich.“ Günther Fleischel aus dem Zuchthaus Hameln in einem Brief an Alice Fleischel in Radolfzell, 26. Mai 1940.
Alice Fleischel und ihr Sohn Günther, der im Zuchthaus von Hameln inhaftiert war und von dort seine Auswanderungsbemühungen nach Südamerika intensivierte, schrieben sich im Jahr 1940 Briefe, die in der Häftlingsakte Günther Fleischels überliefert sind.35
„Ich wäre froh, wenn ich als letzte Nichtarierin hier bleiben könnte, besonders wo man mir immer wieder meine Abstammung nicht glauben will.“ Alice Fleischel an Günther Fleischel, Brief vom 18. Februar 1940 aus München ins Zuchthaus Hameln.
„Ich rechne damit, dass der Krieg bald beendet ist und dass dann der, der seine Auswanderung fertig hat, auch zuerst fortkommt. Man muss damit rechnen, dass vielleicht die Juden irgendwo geschlossen angesiedelt werden - da möchte ich nicht hin - Du auch nicht. (…) Es wäre sinnlos für Dich, hier zurück zu bleiben. Du bist allein, hast keinen, der Dir wirklich nahe steht, wo Du sein könntest.“ Günther Fleischel an Alice Fleischel in Radolfzell, Brief vom 26. Mai 1940.
Die Korrespondenz dokumentiert eindrücklich, dass Günther Fleischel 1940 plante, nach seiner Haftentlassung zusammen mit seiner Mutter nach Brasilien oder Bolivien zu emigrieren, diese aber von diesem Plan nur schwer zu überzeugen vermochte. Noch im Februar 1940 in einem Brief aus München äußerte Alice Fleischel grundsätzlichen Zweifel an dem Vorhaben, „denn was sollen alle Staaten mit all den Juden anfangen!“ Schließlich erhielt Günther aber doch die Mitteilung, dass sie mit ihm zusammen auswandern wolle; im Gegensatz zu Günther Fleischels Frau Ilse Lessel, die „aus Ungeschicklichkeit, Angst oder Nichtwollen“ dazu nicht bereit sei, wie er in einem Brief vom 26. Mai 1940 an seine Mutter in Radolfzell - „hauptpostlagernd“ nach Konstanz geschickt - beklagte. Der Brief wurde von Alice Fleischel in Konstanz allerdings nicht abgeholt und ging wieder nach Hameln zurück. Im September 1940 schickte sie aus Radolfzell - wie auch zuvor schon bei verschiedenen Anlässen - letztmals vor der Deportation einen kleinen Geldbetrag an ihren Sohn ins Zuchthaus nach Hameln.36
„Mit Dank“: Brief Alice Fleischels an die Zuchthausverwaltung Hameln 1940.
“…reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt“ - Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, in einem Schreiben vom 29. Oktober 1940 an das Auswärtige Amt über die Deportation der badischen und pfälzischen Juden. Foto: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin.
„Meine Mutter plötzlich am 22.X.40 m. allen Nichtariern aus Baden nach Südfrankreich an d. Pyreneen (!) abtransportiert. Erwarte von da weitere Nachricht. (…) Von Mutter erwarte ich i. Laufe des Mts. wieder Post.- Das ist die Lage.“ Günther Fleischel an Kurt Kaliski, Brief vom 2.2.1941
Günther Fleischel (1903-1943); undatierte Passfotografie in seiner Häftlingsakte, Hauptstaatsarchiv Hannover. Eine Fotografie von Alice Fleischel ist nicht überliefert.
Alice (Sara) Fleischel findet sich namentlich im Vermögensbeschlagnahmungs-„Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden“, angefertigt vom „Generalbevollmächtigten für das Jüdische Vermögen in Baden“, Karlsruhe. Als Abgangsort der Deportation ist Radolfzell, als Alice Fleischels Wohnsitz ist München eingetragen.37
Gesamtansicht des Lagers Gurs, Oktober 1940, im Hintergrund die Pyrenäen.
Frauenbaracken, 1940/41. Archiv der CIJC, Paris
Anfang Februar 1941 äußerte Günther Fleischel in einem Brief 38 an den befreundeten Kurt Kaliski39 die Hoffnung, im Laufe des Monats noch Post von seiner Mutter aus Gurs zu bekommen, doch eine Mitteilung seiner in Berlin wohnenden Tante, Alice Fleischels Schwester Charlotte Asten (1874-21.7.1943, Freitod) vom 21. Mai 1941 informierte ihn ohne nähere Angaben vom Tod seiner Mutter.40 Günther Fleischel selbst wurde nach seiner Haftentlassung in Hameln 1941 im Dezember des Jahres von Hannover nach Riga deportiert, von den deutschen Besatzern zum Judenältesten des dortigen Gettos bestimmt und starb 1943 an Krebs.
Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Berlin steht folgender Eintrag: „Fleischel, Alice, geborene Rossin, geboren am 04. Juni 1873 in Hamburg / - / Hansestadt Hamburg, wohnhaft in München, Deportationsziel: ab Baden - Pfalz - Saarland, 22. Oktober 1940, Gurs, Internierungslager“. In der alphabetischen Liste der Todesfälle im Lager Gurs ist Alice Fleischel nicht zu finden.41
Im Jahr 2007 hatten Radolfzeller Konfirmanden im Rahmen des ökumenischen Mahnmal-Projekts „Mahnmal für die Deportierten Jüdinnen und Juden Badens“ auf dem Seetorplatz einen halben Gedenkstein für Alice Fleischel aufgestellt. Die andere Hälfte steht in Neckarzimmern, der zentralen Gedenkstätte für die Deportation der badischen Juden im Jahr 1940.
Im Juni 2013 wurde diesem bislang kommentarlosen und nicht von selbst verständlichen Gedenkstein eine vom Rotary-Club gestiftete Bild- und Texttafel hinzugefügt (Text: Christof Stadler), die Alice Fleischel namentlich nennt und ihre Deportation von Radolfzell nach Gurs erläutert.
Stolperstein für Alice Fleischel, Seetorstr. 2, Radolfzell, 28. Juni 2014.
Recherchen und Text: Markus Wolter, Stefan Winkler
Quellen
- Obenaus, Herbert: Vom SA-Mann zum jüdischen Ghettoältesten in Riga. Zur Biographie von Günther Fleischel. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 8 (1999), S. 278–299.
- Lucht, Torsten: Vom grausamen Hintergrund einer Karteikarte, Südkurier 13.06.2007.
- Eintrag zu Alice Fleischel in der Yad Vashem Datenbank.
- Wikipedia-Artikel zum Internierungslager Gurs.
- Wikipedia-Artikel zu Günther Fleischel.
Recherchen und Text: © Markus Wolter, Freiburg 2013.
Einzelnachweise